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Industrie auf dem Prüfstand

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Die Industrie 4.0 erlebt ihre erste echte Bewährungsprobe. Status quo, kontinentaler Vergleich und künftige Krisenprävention.

Wenn 1-Cent-Artikel wie Masken plötzlich um schamlose drei bis 15 Euro feilgeboten werden, könnten sich Frankfurter Börseninsider schmunzelnd an eine Anekdote aus dem Dax-Krisenjahr 1989 erinnert fühlen. Eine Mischung aus Tristesse und Fadesse bewog einige Händlerkollegen an einem ruhigeren Tag alle Smarties der Stadt aufzukaufen. Behalten wurden von den Schokolinsen in den vielen bunten Farben nur 500 rote, um deren Preis in ungeahnte Höhen zu bugsieren.
Mehr als 30 Jahre danach treibt in der Maskenmarkt ähnliche Blüten. Nur wenige auf der Welt haben (produzieren) sie, aber jeder will sie – und dies dringend. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage, gepaart mit einem dramatischen Notstand, bringt die Preise zum Glühen. War es anno 1989 eine Spielerei, um absurde Auswüchse von Marktmechanismen offenzulegen, so sprechen Fachleute anno 2020 von hausgemachten Problemen in der europäischen Industrielandschaft, die zum Teil einem Offenbarungseid in Sachen Krisenfestigkeit gleichkommen.

Asien gibt den Takt vor

„Europa ist ein starker Industriestandort – und gerade die klassischen Industriebranchen haben massiv zu kämpfen. Asiens Großunternehmen gewinnen an Bedeutung. China gibt in der digitalen Wirtschaft derzeit den Takt vor und setzt Standards und Regeln. Europa hat darauf noch keine Antwort gefunden.“ Der Befund von Gunther Reimoser, Country Managing Partner von Ernst & Young, stammt aus dem Sommer 2019 und verhieß nichts Gutes. Die Realität sollte Europa schneller einholen als befürchtet.
Klassische europäische Industriesparten wie die Auto-, Maschinenbau- oder Kunststoffbranche leiden unter Produktionsstilllegungen, Nachfrageausfällen und der Störung der weltweiten Lieferketten. Der Umstand, dass so wie in unzähligen anderen Branchen die Produktion seit Jahren entweder in Länder mit niedrigen Lohnkosten ausgelagert oder an diese gleich ganz abgegeben wurde, macht die Abhängigkeit vom nicht europäischen Ausland auffälliger denn je. Es scheint, als werde 2020 die Zeche fällig.

Augenscheinlichstes Beispiel der Gegenwart ist der Bereich der medizinischen Schutzausrüstung, wozu neben Seife, Desinfektionsmittel und Schutzbrillen auch Masken gehören. China war und ist der weltweit größte Exporteur. Bei den aktuell immens nachgefragten einfachen OP-Masken hält China einen geschätzten Anteil an der Weltproduktion von 75 Prozent, gefolgt von Taiwan. Rund 2000 Hersteller sind in diesem Wirtschaftsraum aktiv. Dazu addieren sich Hunderte ausländische Unternehmen, die dort produzieren lassen.

Handeln ohne Zaudern

Die in Covid-19-Zeiten schlagend werdende Abhängigkeit von vorwiegend asiatischen Herstellern scheint nicht nur eine Frage der günstigeren Produktionskosten, sondern auch eine der Flexibilität zu sein. Was Flexibilität in der Produktion bedeutet, zeigt sich etwa am Beispiel des Auto-, Bus- und Lastwagenherstellers BYD. Der größte Elektroautobauer Chinas brachte in nur zwei Wochen die weltgrößte Fabrik für Atemschutzmasken zum Laufen. Dazu wurde eine Task Force aus Führungskräften und rund 3000 Ingenieuren gebildet, die innerhalb von einer Woche die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sowie den Prozess für Maschinen zur Herstellung von Masken abgeschlossen hatte. Parallel dazu wurden in den ersten sieben Tagen F&E-Aufgaben für Handdesinfektionsmittel in medizinischer Qualität erledigt. In der zweiten Woche wurden die Fabrikräume gebaut bzw. adaptiert. Ab dem vierzehnten Tag nach Projektstart produzierte BYD fünf Millionen Masken (rund ein Viertel der gesamten Produktionskapazität Chinas) und 300.000 Flaschen Desinfektionsmittel, täglich. Nachdem ebenfalls täglich bis zu zehn neue Maschinen zur Herstellung von Gesichtsmasken produziert werden, steigt die Maskenproduktion permanent weiter an.

Zaudern ohne Handeln

Während man in China im Februar 2020 und innerhalb von zwei Wochen zur Tat geschritten ist, reifte in Europa bestenfalls die Idee dazu. Anfang April hieß es etwa bei BMW, dass man „eine eigene Produktion von medizinischen Masken prüfe“. Ähnlich zurückhaltend geben sich andere große Herstellermarken und argumentieren damit, dass eine Produktionsumstellung nicht von heute auf morgen möglich ist. Zu zahlreich seien die Hürden für eine erfolgversprechende Produktion in kurzer Zeit. Manche scheuen sich aus wirtschaftlichen Gründen ohne Absatzgarantie ans Werk zu gehen, andere verweisen auf die Zulassungsprozesse nach EU-Vorgaben, die 60 Tage und länger dauern können. Derweil stehen die Werke still.

Ähnlich zäh laufen die Pläne, die technischen Möglichkeiten und die Werkshallen von Autoherstellern für die Produktion dringend benötigter Beatmungsgeräte heranzuziehen, die in den weltweiten Kliniken zu Hunderttausenden fehlen. „Der Umbau einer Produktionslinie, auf der bisher Autos gefertigt wurden, dauert mindestens sechs Monate“, meint dazu Rolf Janssen, Automobil- und Produktionsexperte der Unternehmensberatung Roland Berger. Das schwächt naturgemäß das Interesse an einem Umstieg, zumal dann womöglich die Kapazitäten schon wieder für den arteigenen Produktionshochlauf benötigt werden.

Maschinenbau in Nöten

Schwieriger gestaltet sich die Situation bei medizinischem Gerät. „Es überrascht mich, dass dabei vor allem an Autohersteller gedacht wird. Denn es gibt andere Industrien, die eher infrage kämen, etwa Haushaltsgerätehersteller oder Werkzeugmaschinenhersteller“, sagt Janssen – und übersieht dabei möglicherweise, dass in diesen Wirtschaftsbereichen in Zeiten von Covid-19 von Europa nur wenig zu erwarten ist. Die rund einmonatigen Schließungen der Produktionswerke des deutschen Dax-gelisteten Werkzeugmaschinenherstellers DMG Mori oder des österreichischen Spritzgießmaschinenbauer Engel (5200 Mitarbeiter, davon 3000 in Österreich) im März und April diesen Jahres sind nur zwei prominente Beispiele, wie es um Maschinenbauer derzeit bestellt ist. Infizierte Mitarbeiter in häuslicher Quarantäne und schwerwiegende Engpässe in der Lieferkette zwingen viele Unternehmen kurzfristig in die Knie. Die Prognosen für das laufende Jahr sind düster. Die VDMA, Branchenverband des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus, der mit mehr als einer Million Beschäftigten der größte industrielle Arbeitgeber Deutschlands ist, rechnet für 2020 mit „einem realen Produktionsminus von mindestens fünf Prozent“, so VDMA-Präsident Carl Martin Welcker. Seitens der österreichischen Industriellenvereinigung werden ähnlich stürmische Zeiten vorausgesagt.

Smarter Maschinenbau im Hoch

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel von Taiwan. Hier hat die Werkzeugmaschinenindustrie binnen kürzester Zeit Produktionskapazitäten umgelenkt und u. a. in die Fertigung von Masken gesteckt. Unternehmen wie Tongtai Machine & Tool, TPI Bearings und Hiwin Technologies haben Produktionslinien eingerichtet und die Vorlaufzeit von üblicherweise 45 bis 60 Tagen auf 25 Tage gedrückt. Die Produktion schnellte damit von rund drei Millionen Stück pro Tag auf mehr als zehn Millionen in die Höhe.

Woran liegt die Krisenresilienz?

Generell scheinen taiwanesische Werkzeug- und Maschinenbauunternehmen, die in der Mehrzahl in einem 60-km-Umkreis um die Stadt Taichung angesiedelt sind, sich keine Sorge machen zu müssen. Woran die Krisenresilienz liegt, ist laut Experten kein Geheimnis. Zum einen befindet sich auf kleinstem Raum die gesamte maschinenbauliche Wertschöpfungskette, von der Produktion von Komponenten und Teilen bis zur Montage von ganzen Maschinen. Diese vollständige Lieferkette macht von Zulieferern im Ausland unabhängig. Zum anderen hat sich der Inselstaat kontinuierlich vom Hersteller klassischer mechanischer Bearbeitungsmaschinen zum Anbieter von Präzisionsmaschinen und Lösungen für die digitale Vernetzung gewandelt.
Die Digitalisierung und in ihrem Sog die Anwendungen der künstlichen Intelligenz (KI) werden in dem 24-Millionen-Einwohner-Land kompromisslos vorangetrieben. 2018 wurde der Taiwan Artificial Intelligence Action Plan verabschiedet, der bis 2021 umgerechnet mehr als 1,1 Milliarden Euro an Mitteln für KI-Forschung und -Anwendungen vorsieht. Bereits jetzt ist Taiwan weltweit der viertgrößte Lieferant von Maschinen, Teilen und Komponenten, die mittels hoch entwickelter Technik und künstlicher Intelligenz hergestellt werden. Maschinenbau und Informationstechnik sind die beiden wichtigsten Industrien, deren Produkte jährlich im Wert von rund vier Milliarden Euro in den Export gehen. Geliefert wird in den südostasiatischen Raum, aber auch in die USA und nach Europa.

„Für 2020 rechnen wir mit einem Anstieg der Exporte von intelligenten Maschinenausrüstungen um fünf bis zehn Prozent. Die Maschinenindustrie Taiwans hilft Kunden beim Aufbau präziser, effizienter und flexibler Produktionslinien – und wenn nötig bewältigt sie auch globale Krisen wie den Ausbruch von Corona“, bringt es Ba-Xi Ke, Vorsitzender des taiwanischen Verbandes der Maschinenindustrie, auf den Punkt.

Lückenlose digitale Lieferkette

Taiwan zeigt im smarten Hightech-Maschinenbau vor, wie die industrielle Digitalisierung positiven Einfluss auf Anlagen, Systeme und Prozesse hat. In Europa scheint man, generalisierend gesprochen, Aufholbedarf zu verspüren. „Aktuell konzentrieren sich die meisten Unternehmen darauf, mit neuen Technologien punktuell Prozesse zu flexibilisieren oder den Output zu erhöhen. Um die Fertigungszellen und Produktionslinien jedoch durchgängig zu digitalisieren, müssen Entscheider auf zukunftssichere Anbieter bauen, die über die erforderlichen Kernkompetenzen aus der digitalen und der Welt des Maschinen- und Anlagenbaus verfügen“, stellt dazu Dirk Jacob, Experte für Fertigungsautomatisierung und Robotik an der Hochschule Kempten, fest.

Die krisenfeste Produktion von morgen

Für die krisenfeste Produktion von morgen benötige man Automatisierungslösungen, die den Unternehmen ein digitales Ökosystem bieten. Dazu gehören Micro-Services und Big-Data-Analysen, um die Fertigungseffizienz, -qualität und -verfügbarkeit zu analysieren und nachhaltig zu steigern. Erst eine lückenlos digitalisierte Supply Chain bringt die Form von unabhängiger Flexibilität, die es unter sich rasant wandelnden Rahmenbedingungen braucht.

Notwendig ist dafür eine echte digitale Infrastruktur, wie es VDMA-Präsident Welcker für seine Branche und sein Land fordert: „Deutsche Maschinen- und Anlagenbauer benötigen das dringend, um sich erfolgreich im Weltmarkt behaupten zu können. Der Breitbandausbau darf sich nicht nur auf städtische Regionen konzentrieren, Deutschland benötigt ein flächendeckendes und leistungsstarkes Internet.“ Im Fokus steht dabei vor allem der Ausbau des neuen Mobilfunkstandards 5G, der für die Digitalisierung der Industrie und das Vorantreiben des Internet of Things essenziell erscheint. 5G gilt als die Grundlage für die Wirtschaft der Zukunft, für die technische Verzahnung von Produktionsprozessen und Lieferketten, den digitalen Austausch zwischen Maschinen und nicht zuletzt für dezentralisierte Arbeitstrends, Stichwort Homeoffice.

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