Gastbeitrag

Bevor der Rechtsstaat erodiert: Lernen von England?

Flags are seen above a souvenir kiosk near Big Ben clock at the Houses of Parliament in central London
Flags are seen above a souvenir kiosk near Big Ben clock at the Houses of Parliament in central LondonReuters
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Es wäre sinnvoll, den Verfassungsdienst aus dem Bundeskanzleramt herauszulösen und ihn in eine von jedem parteipolitischen Einfluss befreite Einrichtung zu überführen.

Der Ausbruch der Corona-Pandemie hat zu einschneidenden Veränderungen geführt, von denen die gesamte Bevölkerung betroffen ist. Viele schränken die Grund- und Freiheitsrechte ein. Das ist nicht grundsätzlich zu kritisieren, solange sich die hochansteckenden Corona-Viren weiter ausbreiten und kein Medikament oder Impfstoff dagegen besteht und soweit die Einschränkungen notwendig sind. Ein solcher gesetzlicher Eingriff im Rahmen der Verfassung muss durch den Gesetzgeber erfolgen. Auch Verordnungen eines Verwaltungsorgans können Grundrechte einschränken, soweit eine gesetzliche Ermächtigung zum Erlass einer solchen Verordnung besteht. Das ist in einem demokratischen Rechtsstaat ein übliches Verfahren, und die Schranken „im Rahmen der Gesetze“ bzw. „im Rahmen der Verfassung“ unterscheiden Rechtsstaaten von Systemen, die wir aus China und anderswo kennen.

Mitte März hat die Regierung unter großem Zeitdruck Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie veranlasst. Selbst beschlossen hat sie sie nicht, vielmehr hat sie ein paar Abgeordnete veranlasst, einen Initiativantrag einzubringen. Das ist nicht unzulässig, aber dieser Weg schließt das übliche Begutachtungsverfahren aus, das immer dann stattfindet, wenn die Regierung einen Entwurf eines Gesetzes beschließt und ihn dem Nationalrat vorlegt. Die Folgen dieses abgekürzten Verfahrens sind bekannt, seit Wochen berichten die Massenmedien nicht nur über haarsträubende Schlampereien, sondern auch über Verstöße gegen die Verfassung. Mehrere Passagen einer Verordnung von Mitte März wurden vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) als gesetzeswidrig aufgehoben und die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass noch ähnliche weitere Urteile kommen werden.

Dass der VfGH einzelne Passagen eines Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit oder eine Verordnung wegen Gesetzeswidrigkeit aufhebt, kommt jedes Jahr mehrmals vor und ist oft ein Routinevorgang, der nur ein paar Worte betrifft. Dass aber ein Bundeskanzler das Bevorstehen einer Aufhebung durch den VfGH fast triumphierend mit dem Hinweis kommentiert, wenn eine solche Bestimmung als verfassungswidrig erklärt werde, sei sie ohnehin nicht mehr in Kraft, ist ungewöhnlich. Das wiegt umso schwerer, als er in diesem Zusammenhang von Spitzfindigkeiten sprach. Die weit über 10.000 Mitbürger, die empfindliche Geldstrafen auf der Grundlage einer gesetzeswidrigen Verordnung zu zahlen hatten, werden sich ihre Meinung bilden.

Im Fall der Corona-Gesetze und –Verordnungen kommt aber hinzu, dass deren Qualität so miserabel ist, dass in einigen Bundesländern die Polizei angekündigt hat, sie werde aufgrund der Corona-Strafbestimmungen keine Anzeigen mehr erstatten. Wer hat eigentlich die Polizei instruiert, wann aufgrund der sogenannten Ausgangsbeschränkungen Anzeigen zu erstatten sind und wer hat die Bezirksverwaltungsbehörden instruiert, wann Strafen aufgrund dieser Anzeigen zu verhängen sind?

So weit haben wir es also schon gebracht, dass in Gesetzen zwingend vorgesehene Strafbestimmungen („… ist zu bestrafen“) von den Behörden ignoriert werden können. Der Innenminister der sich nie öffentlich äußert, ohne wortreich den Polizisten und Polizistinnen zu danken und manchmal nichts anderes sagt, als ein „große Dankeschön“ an die Polizei zu richten und Polizeihunde vor laufender Kamera streichelt, schweigt dazu. Wenn das so weiter geht, erodiert der Rechtsstaat und das würde die Demokratie gefährden. Wir sind zwar noch lange nicht so weit, aber auch den ersten Schritten sollte man Einhalt gebieten. Die Regierung tangiert das offenbar nicht, sie legt vielmehr eine gewisse Trotzreaktion an den Tag, indem sie die Kritik nicht aufgreift, und stürzt sich in heftige Aktivitäten, nämlich weitere Maßnahmen zu verordnen, zuletzt zwei Verordnungen des Gesundheitsmisters über die Verpflichtung Mund- und Nasen-Masken zu tragen und über geänderte Bestimmungen zur Einreise nach Österreich. Beide Maßnahmen erscheinen grundsätzlich völlig richtig, es irritiert aber das Drumherum dieser Schritte.

Womit wir bei der Informationspolitik der Bundesregierung wären. An einem aktuelle Beispiel sei diese erläutert: Am Wochenende 25./26. Juli erschienen in allen Zeitungen ganzseitige Inserate der Regierung, denen folgendes zu entnehmen war: „So klappt auch die Rückreise: Beachten sie die aktuellsten Bestimmungen zur Einreise in Österreich“, und es folgt die Angabe der Homepage www.bmeia.gv.at des Außenministeriums. Das überrascht, denn dieses hat nicht mehr Kompetenzen im Zusammenhang mit der Frage, wer unter welchen Bedingungen nach Österreich einreisen darf, als der Bürgermeister von St. Jakob im Walde, nämlich keine. Die liegen, soweit es um Corona geht, beim Gesundheits- und ansonsten ganz generell beim Innenminister. Das Außenministerium vermeldet daher völlig richtig nichts zu diesem Thema, sondern begnügt sich mit dem Hinweis, für Fragen zur Einreise nach bzw. Durchreise durch Österreich sei grundsätzlich das Bundesministerium für Inneres bzw. für Fragen zu Quarantänebestimmungen oder Covid-Tests das Sozial- und Gesundheitsministerium zuständig. Weiß man das im Bundeskanzleramt nicht? Das hat ja wohl die Inserate gestaltet und in Auftrag gegeben. Warum das Inserat nicht gleich auf das Gesundheitsministerium verweist, sondern den Bürger erst einmal einen Umweg zum Außenminister machen lässt, bleibt ungeklärt. Vielleicht soll der eine oder andere zunächst erfahren, was der von der ÖVP nominierte Außenminister so alles an Gutem tut, bevor sich der Leser zum Gesundheitsminister weiterklickt.

Auf der Homepage des Sozial- und Gesundheitsministers findet man alle möglichen Informationen und unter der Rubrik „Rechtliches“, wo man eigentlich die Verordnung 336/2020 über die Einreiseregelungen erwarten würde, stößt man auf einen undatierten Text, der den Inhalt der neuen Verordnung nacherzählt. So vorzugehen ist immer dann sinnvoll, wenn der Originaltext der Verordnung wenig verständlich ist. Offenbar hat man das im Gesundheitsministerium erkannt.

Gescheiter wäre es gewesen, den Originaltext gleich verständlich zu verfassen. Die Zusammenfassung besteht aus 528 Worten, die Verordnung aber aus 1.103, und so merkt man also gleich, dass da einiges weggefallen ist. Ich will mich nur auf das Titelblatt und die zwei ersten Sätze beschränken. Das Dokument beginnt mit einer Titelseite, die aus dem PR-mäßig gestylten, aber unvollständigen Namen des Ministeriums und der Überschrift „Gesundheitsministerium: Novellierte Einreiseverordnung ab Montag, 27. 7., in Kraft“ besteht. Die folgende Seite beginnt mit dem in riesengroßer Schrift verfassten Hinweis: „Für Personen, die sich an diesem Tag bereits im Ausland befinden, gelten die Änderungen erst ab Samstag, 1. 8. 2020.“ Das kann nur bedeuten, dass die neue Verordnung für all jene erst ab 1. 8. gilt, die am 27. 7. schon im Ausland waren.

Der Satz klingt sinnvoll, ist aber falsch. Die Verordnung enthält im neuen § 6a eine ähnliche Regelung, die sich in zwei Punkten von der Zusammenfassung des Ministeriums unterscheidet: erstens gilt sie nicht für alle Personen, die sich zu welchem Zeitpunkt auch immer, schon im Ausland aufgehalten haben, sondern nur für jene von ihnen (In- oder Ausländer), die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben. Und zweitens ist das in der Zusammenfassung angegebene  Datum 1. 8. 2020 falsch, denn § 6a der Verordnung sieht vor, dass sie für den genannten Personenkreiserst mit Ablauf des fünften Tages nach Kundmachung der Novelle in Kraft tritt. Die Kundmachung erfolgt am 24. 7., der fünfte Tag danach war der 29. 7. und daher gilt die novellierte Verordnung für den genannten Personenkreis erst am 30. 7.

Diese Desinformation wurde vom ORF weiterverbreitet, so am 27. 7. im Morgenjournal auf Ö1, als der ORF zwei Mal meldete, dass die neuen Einreisebestimmungen für Österreicher erst ab 2. 8. gelten würden statt, wie es richtig ist, schon am 30. 7. Dann folgt in der Zusammenfassung des Ministeriums noch ein weiterer Satz, der im Anschluss an den Text davor völlig unsinnig ist, denn er enthält die Worte „die sich an diesem Tag im Ausland befinden“ und die Regeln der Grammatik lehren, dass mit den Worten „an diesem Tag“ nur der letzte vor dieser Stelle genannte Tag gemeint sein kann und das ist der im zweiten Satz genannte 1. 8. 2020.

Die ganze Tragödie wird klar, wenn man den Satz zur Gänze zitiert und die letzten Worte des vorangegangen Satzes dazu: „… Samstag, 1. 8. 2020. Für Personen, die sich an diesem Tag bereits im Ausland befinden, gelten die Änderungen erst ab Donnerstag, 30. 7. 2020.“ Wer die Verordnung in Ruhe studiert und mit der Zusammenfassung des Ministeriums vergleicht, kann nur zu dem Schluss kommen, dass der zweite Satz einfach zu streichen ist. Dann beziehen sich die Worte „An diesem Tag bereits im Ausland befinden“ auf das im ersten Satz enthaltene Datum („ab Montag, 27. 7. in Kraft“) und alles wird klar: für Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich, die sich am 27. 7. im Ausland befinden, gilt die geänderte Verordnung erst ab 30. 7. 2020. So steht es auch in § 6a der Verordnung und übrigens ein zweites Mal als letzter Satz am Schluss der Seite 3. Offenbar hat man im Laufe des 27. 7. die Fehler erkannt und gleich das ganze Dokument von der Homepage entfernt.

In der Zwischenzeit melden sich jeden Tag neue Verfassungsrechtler zu Wort und weisen nicht nur auf sagenhafte Redaktionsfehler in den neuen Verordnungen hin, sondern äußern gravierende Bedenken zur Frage, ob die neuen Regelungen verfassungskonform sind bzw. gesetzlich nicht gedeckt sind.

Das in den Inseraten der Regierung genannte Außenministerium verweist unter der Überschrift zur Frage, ob Touristen in Österreich einreisen dürfen, auf das für diese Frage unzuständige, aber von Frau Köstinger (ÖVP) geleitete Landwirtschafts- und Tourismusministerium. Das bietet am 26. 7. um 13.15 Uhr unter „COVID-19 Information für Gäste“ folgende Information: „Stand: 14.7.2020, 10:00 Uhr. Die Informationen werden laufend ergänzt.“ Soll keiner glauben, dass man das wenigstens am Tag des Inkrafttretens der neuen Verordnung geändert hätte. Nein, am Nachmittag des 27. 7. fand sich kein Wort darüber, dass seit diesem Tag eine neue Einreise-Verordnung gilt. Am 28. 7. Trifft man dann aber auf einen Hinweis auf die neue Verordnung mit einem Link zum Gesundheitsministerium. Klickt man diesen an, findet man sich im Rechtsinformationssystem des Bundes und bekommt den Text der Verordnung in der Fassung vor (!) der Novelle 336/2020 präsentiert.

Man muss sich die Frage stellen, warum die Regierung so vorgeht. Grundsätzlich gute Absicht wird man ihr nicht abstreiten können. Gerade deshalb macht man sich Gedanken, wie es dazu kommen kann, dass die Information der Bevölkerung trotz immensem finanziellen Aufwands verwirrend und irreführend und in manchen Punkten einfach falsch ist.

Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Aus eigener Beobachtung glaubt man zu erkennen, dass die Regierungsspitze an einem überhöhten Koordinationsbedürfnis leidet. Gesetz und Verfassung regeln genau, welcher Minister wofür zuständig ist. Aus der Zuständigkeit eines Ministers folgt in der Regel die Unzuständigkeit aller anderen Minister einschließlich des rechtlich einem Minister gleichgestellten Bundeskanzlers und des Vizekanzlers. Unsere Regierung verhält sich aber so als sei der Bundeskanzler der Vorgesetzte der Bundesminister. Anders ist es nicht zu erklären, warum die Ankündigung der Ausweitung der Maskenpflicht durch eine Verordnung des Gesundheitsministers warten musste, bis der Bundeskanzler aus Brüssel zurückgekehrt war. Da sich um eine Verordnung eines Ministers handelt, ist eine Pressekonferenz von vier Regierungsmitgliedern entbehrlich und lenkt nur vom Thema ab. Der Vizekanzler hatte nicht viel zu sagen, außer dass ihm ein paar Dinge wichtig sind, was er aber ausführlich darlegte, und der Innenminister lobte die Polizei.

Das führt, zweitens, zu einer weiteren Beobachtung: nicht das erste Mal verkündet die Regierung Neuigkeiten, die sich in Gesetzen oder Verordnungen niederschlagen, lange bevor ein solcher Text überhaupt fertig ist. Zuletzt war das mir der schon erwähnten Wiedereinführung der Maskenpflicht der Fall: der Bundeskanzler sprach davon, sie würde für Supermärkte, Bank- und Postfilialen gelten. Der Gesundheitsminister sprach aber nicht von Supermärkten, sondern verwendete den wesentlich weiteren Begriff des Lebensmittelhandels. Wegen der Aussage des Bundeskanzlers fand sich in allen Medien die Meldung, in Supermärkten werde die Maskenpflicht wieder gelten und dazu gehören bekanntlich keine Bäckereien, Fleisch- und Wursthändler, Fischgeschäfte, Weinhandlungen, Tee- und Kaffeegeschäfte, Konditoreien und Süßwarenhandlungen.

Das Abhalten von Pressekonferenzen, so hat man den Eindruck, ist für die Regierungsspitze wesentlich wichtiger als das worum es eigentlich geht. Eine neue Rechtsvorschrift hat erhebliche Auswirkungen und daher kommt es auf jedes Wort an. Letzteres scheint der Regierungsspitze egal, wichtig ist vor allem die Message. Weniger wichtiger ist ein funktionierender Staatsapparat. Der Bundeskanzler sprach kürzlich selbst davon, dass es „kaputte Staaten“ in der EU gäbe. So weit sind wir in Österreich aber noch lange nicht. Aber der Stil unserer Regierung bewegt des Staat in diese Richtung.

Nur so ist es zu erklären, dass der Bundeskanzler wochenlang behaupten konnte, das Betreten des öffentlichen Raums sei nur zu bestimmten Zwecken erlaubt. Diese Form der Gehirnwäsche führte bei Tausenden zu der Überzeugung, sie seien zu Recht bestraft worden und ein Rechtsmittel sei daher aussichtslos. Wahrscheinlich hat der Bundeskanzler die Verordnung nie gelesen, geschweige denn am Entstehen auch nur irgendeiner Rechtsvorschrift jemals intensiv mitgewirkt. Das Verhalten verwundert nicht, schaut man sich die Biographien der ÖVP-Mitglieder der Bundesregierung an. Mit einer Ausnahme hat keines von ihnen mehr als ein paar Wochen dem Nationalrat angehört. Daher haben sie sich auch nie in einem Ausschuss im Detail mit einem Gesetzesentwurf befasst und mit anderen Abgeordneten um Formulierungen gerungen.

Die Methoden der Legistik sind manchen von ihnen nicht nur fremd, einige von ihnen wissen vielleicht gar nicht, dass es so etwas gibt. Klare Regeln zu formulieren muss man lernen und in Österreich kann das beispielsweise der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt. Als es in den letzten Monaten immer wieder Fragen zu Verordnungen und Erlässen des Gesundheitsministers gab, schickte man mehrmals nicht den zuständigen Mitarbeiter des Ministeriums ins Fernsehen, sondern einen Dr. Clemens-Martin Auer, einen studierten Philosophen und langjährigen Mitarbeiter der ÖVP-Zentrale. Im Organigramm des Ministeriums wird er als „Sonderbeauftragter (Special Envoy) für Gesundheit“ gezeichnet (das ist so grotesk wie es wäre, gäbe es im Vatikan einen Sonderbeauftragten für die katholische Kirche). War der Herr Sonderbeauftragte vielleicht der Autor der einschlägigen Verordnungen und Gesetze? Oder doch eher jemand aus der Abteilung, die für die „Koordinierung legistischer Angelegenheiten in formaler Hinsicht“ zuständig ist. Wir wisssen es nicht, aber vielleicht erfahren wir es eines Tages aus der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage.

Die Folge des Fehlens dieser für Regierungsmitglieder sehr wichtigen Lebenserfahrung ist, dass zumindest manche von ihnen nicht nur das Parlament geringschätzen, sondern auch die Verwaltung des Staates, also die von ihnen geleiteten Ministerien. Der Bundeskanzler ist ja, was sein gutes Recht ist, davon abgekommen, sich zum Juristen ausbilden zu lassen. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb muss sich bewusst sein, dass er und seine Regierungskollegen zu den obersten Organen der Vollziehung im Sinne der Verfassung (Art. 19 B-VG) zählen. Das scheint aber nicht der Fall zu sein und nur so ist es zu erklären, dass weniger mit dem in der Regel sehr kompetenten Beamtenapparat kooperiert wird, sondern mit Mitarbeitern in den ständig anwachsenden Kabinetten der Minister. Nicht jeder der dort Tätigen zeichnet sich durch nennenswerte Kompetenz aus. Und manche derer, bei denen die Kompetenz liegt, werden zur Seite geschoben. Bundeskanzler und Minister stehen an der Spitze der Staatsverwaltung. Und solange diese Verwaltung funktioniert, ist der Staat nicht „kaputt“.

Nun wissen wir aus Zeitungsberichten, dass sich der Bundeskanzler gelegentlich von politischen Gegnern umzingelt wähnt, die er offenbar auch im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts vermutet. Man erinnert sich, dass dieser unter der Regierung Kurz I eine Stellungnahme zu einem Gesetzesentwurf zurückziehen musste, weil sie Teile der Regierung störte. Laut Homepage des Bundeskanzleramts begutachtet der Verfassungsdienst „sämtliche Gesetzes- und Verordnungsentwürfe aus anderen Bundesministerien auf ihre Vereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht, einschließlich der Grundrechte.“

Alle diese Phänomene tun dem Rechtsstaat nichts Gutes. Der Bundeskanzler hat in den letzten Monaten mehrfach gesagt, Singapur habe die Corona-Krise sehr „diszipliniert“ bewältigt. Abgesehen davon, dass er die letzten Berichte von Amnesty International oder Human Rights Watch offenbar nicht kennt und daher wohl auch nicht mit seinem Amtskollegen in Singapur diskutiert hat, ist die sogenannte „Disziplin der Bevölkerung“ in einem demokratischen Rechtsstaat ein bedenkliches Kriterium. Es kann durchaus zur Untergrabung des Rechtsstaats beitragen. Genauso bedenklich ist es, wenn die Polizei erklärt, sie könne bestimmte Rechtsvorschriften nicht exekutieren, weil sie unverständlich seien.

Für die Zukunft wird man eine wirksamere Methode finden müssen, dieser schleichenden Entwicklung Einhalt zu gebieten. Sinnvoll wäre es, den Verfassungsdienst aus dem Bundeskanzleramt herauszulösen und ihn in eine von jedem parteipolitischen Einfluss befreite Einrichtung zu überführen, die der Law Commission in Großbritannien nachgebildet ist.

Diese wurde 1965 geschaffen und beschäftigt sich auf hohem fachlichen Niveau mit der Fortentwicklung der englischen Rechtsordnung, ohne die Kompetenz des Parlaments in irgendeiner Weise einzuschränken. Die neue Einrichtung würde alle Aufgaben des Verfassungsdienstes übernehmen und müsste so geschaffen werden, dass sie in dringenden Fällen auch ohne jede Vorlaufzeit tätig werden und das zuständige Ministerium bei der Ausarbeitung von Gesetzen und Verordnungen unterstützen kann. Alle ihre Empfehlungen würden veröffentlicht und jedes Ministerium wäre verpflichtet, Gesetzes- und Verordnungsentwürfe der Einrichtung zu übermitteln.

Die Einrichtung müsste auch verpflichtet sein, zu Initiativanträgen im National- oder im Bundesrat wie auch zu Bürgerinitiativen Stellung zu nehmen. Primär sollte sie sich darum kümmern, dass das legistische und sprachliche Niveau der Rechtsordnung gesichert ist. Die Herauslösung aus dem Bundeskanzleramt würde auch gewisse Vorbehalte eines Ministeriums gegen das Kanzleramt ins Leere laufen lassen. Insbesondere in Koalitionsregierungen könnten solche Vorbehalte bestehen. Und nur die vollständige Distanz von nach parteipolitischen Gesichtspunkten besetzten Gremien wird es der Einrichtung ermöglichen, sich als vollständig unabhängige Einrichtung zu etablieren. Aus diesem Grund erscheint es auch nicht sinnvoll, die Einrichtung als eine des Parlaments zu etablieren.

An der Spitze der neuen Einrichtung könnte eine Einzelperson oder ein Kollegialorgan mit einer langen Funktionsperiode stehen. Die Ernennung sollte durch ein Wahlgremium erfolgen, das aus den Präsidenten des OGH und der Oberlandesgerichte, des VfGH und des VwGH, der Verwaltungsgerichte, des Rechnungshofes und der Finanzprokuratur, den Dekanen der rechtswissenschaftlichen Fakultäten, den Präsidenten der Kammern der Rechtsanwälte und der Notare sowie der Sozialpartner besteht. All das wäre im B-VG zu verankern, um der Einrichtung uneingeschränkte Unabhängigkeit zu sichern. Eine solche Einrichtung täte dem Rechtsstaat Österreich nicht nur gut, sie zu schaffen wird immer notwendiger.

Dr. Alexander Demblin hat in Wien Rechtswissenschaften studiert und arbeitet in der Privatwirtschaft, Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist das Verfassen von Verträgen. Daneben unterrichtet er an einer Fachhochschule.

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