Ökologie

Wie das Leben die Lücken der Erde schließt

Bis aus der unbelebten Steinwüste, die ein Gletscher freigibt, eine blühende Wiese wird, vergehen viele Jahrzehnte.
Bis aus der unbelebten Steinwüste, die ein Gletscher freigibt, eine blühende Wiese wird, vergehen viele Jahrzehnte.(c) Franz Pritz/picturedesk.com
  • Drucken

Wer die Entstehung von Ökosystemen versteht, könnte eines Tages auch ihre Verluste ausgleichen. In einem Gletschervorfeld beim Großglockner bieten sich ideale Bedingungen, um die Besiedelung mit Leben zu erforschen.

Als Erstes kommen immer die Kleinsten. Einzeller wie Bakterien, Pilze oder die urtümlichen Archaeen bilden stets die vorderste Front der Lebewesen, wenn die Natur neue, unbesiedelte Räume freigibt. Ihnen folgen Flechten, Moose und andere Pionierpflanzen, schließlich kriechen auch die ersten kleinen Tiere wie Würmer, Insekten oder Spinnen durch das neue Habitat. Sie formen enge Gemeinschaften, die im Lauf der Jahrhunderte zu den stabilen Ökosystemen heranwachsen, die man in der freien Wildbahn antrifft.

Um die Entstehung einer Wiese, eines Waldes oder eines Moores wirklich zu verstehen, oder gar Schäden solcher Ökosystemen zu reparieren, müsste man eigentlich die Zeit zurückdrehen können – oder einen Ort finden, der einem alle Phasen der Besiedelung offenbart. Letzteres ist der Grund, warum der Ökologe Robert Junker für seine Forschung Berge besteigt. „Wir arbeiten im Vorfeld des Gletschers Ödenwinkelkees am Großglockner. Der hatte – wie alle Gletscher der Alpen – während der kleinen Eiszeit um 1850 herum seine größte Ausdehnung, damals war er ziemlich genau anderthalb Kilometer länger als heute. Die letzten 170 Jahre hat er sich dann zwar nicht linear, aber relativ gleichmäßig zurückgezogen, und das machen wir uns zunutze.“

Wo die Zeit zur Strecke wird

Mit jedem Meter Berg, der sich vom Eis befreit, beginnt das Spiel des Lebens von vorn, während es auf den Metern dahinter unaufhaltsam fortschreitet. So wird aus der Zeit eine Strecke, die man ablaufen kann. „Wir können circa alle zehn Meter ein Jahr Gemeinschaftsentwicklung nachverfolgen“, erklärt Junker. „Auf der gesamten Länge des ehemaligen Gletschers können wir also nachvollziehen, wie sich die Gemeinschaften im Lauf der vergangenen 170 Jahre Schritt für Schritt verändert und sich schließlich zu einem intakten, störungsunanfälligen Ökosystem entwickelt haben.“

An 140 Stellen, im Schnitt alle 15 Meter beginnend direkt vor dem Eis, installierte der Wissenschaftler mit seinem Team Anker für sogenannte Plots: Ein Quadratmeter große Holzrahmen, die auf den Boden gelegt werden und ihn mit darin gespannten Angelschnüren wie ein großes Schachbrett in je hundert gleich große Kästchen einteilen. Der Clou an dem Aufbau: Indem man die Himmelsrichtung, in welche ein Eck des Plots bei der Installation zeigt, genau bestimmt, braucht es nur noch den Ankerpunkt, um das gleiche Kästchen im Plot wiederzufinden. „So könnte man mit dem Rahmen auch in hundert Jahren noch an der- selben Stelle Proben nehmen oder die Pflanzenarten und ihre Deckung bestimmen.“

Junker, der inzwischen an der Universität Marburg lehrt, hat das Projekt 2018 an der Uni Salzburg begonnen, finanziert durch einen „Start“-Preis in Höhe von 1,2 Millionen Euro, den er beim Wissenschaftsfonds FWF einwerben konnte. Seitdem untersucht sein Team akribisch die Zusammensetzung von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen auf der begehbaren Zeitskala, die das Gletschervorfeld bietet, bestimmt die Interaktionen zwischen den Organismen und den Einfluss ihrer Umwelt. „Wir sehen uns erstmals die gemeinsame Entwicklung von Pflanzen, Arthropoden, Bakterien und Pilzen an. Besonders bei den Pflanzen haben wir bereits ein interessantes Phänomen festgestellt: Zu Beginn siedeln sich natürlich nur wenige Arten an, also Pionierpflanzen wie der Alpensäuerling oder bestimmte Gräser. Die sind darauf spezialisiert, ohne Humus zu wachsen. 50, 60 Jahre lang kommen dann immer mehr Arten dazu, doch dann erreicht die Diversität ein Plateau. Bei den Plots mit über 100 Jahre altem Boden sieht man dann wieder eine Abnahme der Artenvielfalt.“

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.