Buchbesprechung

„Zorn und Stille": Familienaufstellung mit Sarma

Moderne Nomadin: Sandra Gugić ist Österreicherin mit serbischen Wurzeln und lebt heute in Berlin.
Moderne Nomadin: Sandra Gugić ist Österreicherin mit serbischen Wurzeln und lebt heute in Berlin.(c) Dirk Skiba
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Sandra Gugić hat mit „Zorn und Stille" einen Generationenroman geschrieben, der die Probleme zugewanderter Eltern mit ihren Kindern betrachtet. Und umgekehrt.

Zorn und Stille sind verheiratet. Der Zorn ist Asra, die wütende Kettenraucherin, die sich mit Ohrfeigen behilft, wo ihr die Worte fehlen; die Stille ist ihr Mann Sima, der kein Aufsehen erregen möchte und vor den Enttäuschungen des Lebens ins Schweigen flüchtet. Die Flucht ergreifen auch die beiden Kinder von Zorn und Stille, jedes auf seine Weise: Biljana, die Ältere, reißt mit 16 von zu Hause aus und wird später zu Billy Bana, einer angesehenen Fotografin und Künstlerin; ihr Bruder, Jonas Neven, verschwindet auf einer Reise durch das ehemalige Jugoslawien spurlos.

Asra, Sima, Billy und Jonas Neven sind die vier Eckpunkte, zwischen denen Sandra Gugić die Erzählfäden ihres Familienromans „Zorn und Stille“ spannt. Es ist ein Generationenbuch, das gut in die Zeit passt. Gugić, in Berlin lebende Österreicherin mit serbischen Wurzeln, schildert darin mit ebenso viel Wut wie Einfühlsamkeit die unterschiedlichen Erfahrungen der ersten und der zweiten Zuwanderergeneration. Gleichzeitig beschreibt sie ohne historische Patina, wie die Auswirkungen des Jugoslawien-Kriegs die Leben der in Österreich ansässig gewordenen einstigen „Gastarbeiter“ störten und mitunter sogar zerstörten.

Die Leben von Zorn und Stille sind von Anfang an prekär. Asra und Sima kommen aus bäuerlichen Verhältnissen mit gnadenlosen, tyrannischen Vätern. „Wovon träumst du? Und mit welchem Recht?“, fragt Simas Vater seinen Sohn, ehe er versucht, ihm die Freude an Büchern und Reisen mit Schlägen auszutreiben. Sima geht, will ins Ausland. Auf dem Weg trifft er Asra – stolz, zornig, unbeugsam. Sie wird schwanger, er verlässt sie, kehrt zurück, gemeinsam gehen sie nach Österreich, holen später das Kind Biljana nach, bekommen ein zweites – und rackern sich um wenig Geld und noch weniger Ansehen in der „Gastarbeiter“-Tretmühle ab.

Schreien, Schlagen, Küssen. Asra reagiert mit Wut, steht ständig unter Strom, Sima macht sich zunehmend unsichtbar. Sie arbeiten sich aneinander ab: „Ihr Kampf zwischen Begehren und Hass war Alltag, das Schreien, Schlagen und Küssen das Modell, nach dem mein Bruder und ich unser Leben formen sollten.“

Die Eltern schuften in Schicht, sehen einander selten und verpassen so die Entfremdung der Tochter und die Verfremdung des Sohnes. Die seltenen Mahlzeiten am Familientisch, wo alle zu Sarma (Krautrouladen) zusammenkommen, werden zu hitzigen Streitereien: über den Krieg, über die Rolle der Serben, aber auch über das Leben, wie es die Eltern führen. Jonas Neven sitzt still dabei und wartet, dass der Sturm vorüberzieht, der Effekt auf seine Psyche aber ist traumatisch.

Biljanas Rebellion illustriert die Schwierigkeiten, die die zweite und dritte Generation von Zuwanderern mit dem Leben in Österreich hat. „Das oberste Gebot meiner Eltern war das aller braven Migranten: um keinen Preis auffallen oder Aufsehen erregen, unsichtbar und unangreifbar sein vor den Blicken und dem Urteil der anderen.“ Biljana entscheidet sich für alles, was dem widerspricht. Sie steigt in die Hausbesetzerszene ein, wird Fotokünstlerin, eine moderne Nomadin, die in einer lesbischen Beziehung lebt.

Das Glück ist das Ziel. Doch selbst wenn ihr Ausbruch nachvollziehbar ist, macht auch sie sich schuldig, indem sie ihren Bruder im Stich lässt. Es ist wohl kein Zufall, das Jonas Neven, der alles sieht und nichts erträgt, das Leben auf den Punkt bringt: „Alles, was wir machen, absolut alles, tun wir nur, um glücklicher zu werden. Selbst derjenige, der sich umbringt, tut das, weil er glaubt, im Tod glücklicher zu sein.“

Sandra Gugić liest am 3. September um 20 Uhr beim „O-Töne“-Literaturfest im Museumsquartier. Eintritt frei.

(c) Hoffman und Campe

Neu erschienen

Sandra Gugić
Zorn und Stille

Hoffman und Campe, 240 Seiten
24,90 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.08.2020)

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