Der Brexit war keine wirtschaftliche, sondern eine politische Entscheidung. Nun setzt auch die Coronakrise der britischen Wirtschaft zu.
Großbritannien

„Splendid Iso­lation“, statt „Global Britain“

Nicht nur in den Verhandlungen mit der EU verzeichnet Großbritannien keine Fortschritte. Statt von allen umworben wird London zunehmend in die Mangel genommen.

An großen Worten lässt es Boris Johnson selten fehlen. „Nach Jahrzehnten des Winterschlafs erwachen wir wieder als Vorkämpfer des freien Welthandels“, verkündete der britische Premierminister Anfang Februar wenige Tage nach dem Austritt seines Landes aus der Europäischen Union. Mittlerweile haben die Briten entdeckt, dass sie sich warm anziehen müssen: Nicht nur bei den Verhandlungen mit der EU über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen gibt es keine Fortschritte, auch die selbstbewusste Parole von Wirtschaftsministerin Liz Truss, „als unabhängige Nation mit der ganzen Welt Handelsabkommen abschließen zu können“, bleibt bisher Wunschdenken.

Noch bis Jahresende gilt eine Übergangsvereinbarung mit der EU, die es den Briten erlaubt, weiterhin die Vorteile von Binnenmarkt und Zollunion zu genießen. Obwohl zuletzt 49 Prozent des britischen Außenhandels mit der Union abgewickelt wurden, ist eine Vereinbarung zwischen London und Brüssel in weite Ferne gerückt. So wenig erfolgversprechend verliefen die jüngsten Gespräche, dass die deutsche EU-Präsidentschaft nun das Thema sogar von der Tagesordnung der nächsten Botschafterrunde diese Woche in Brüssel genommen hat. In EU-Kreisen spricht man von einem „vollkommen verschwendeten Sommer“.

Streit um Staatshilfen. Die Hoffnungen, auf einem Gipfel im Oktober doch noch eine Einigung finden zu können, sind damit auf den Nullpunkt gesunken. Die Briten wollen weiter „ohne Quoten und ohne Tarife“ Zugang zum EU-Binnenmarkt, doch zu den von der Union geforderten „gleichen Spielregeln“ will sich London nicht verpflichten. Insbesondere bei den künftigen Staatshilfen spießt es sich, und die Coronakrise hat nicht die Bereitschaft zu einem Einlenken erhöht, sondern den Konflikt noch verschärft. Während der für die Umsetzung des Brexit zuständige britische Minister Michael Gove schimpft: „Die EU muss endlich zur Kenntnis nehmen, dass wir eine souveräne Nation sind“, will man in Brüssel verhindern, dass vor der europäischen Küste ein Konkurrent entsteht, der sich mit Staatshilfe, Lohndumping und dem Abgehen von EU-Standards Wettbewerbsvorteile zu sichern versucht.

So ernst ist die Situation, dass in britischen Regierungskreisen mittlerweile ernsthaft Katastrophenszenarien durchgespielt werden. Die Verbindung aus einem harten Brexit und einer zweiten Welle des Coronavirus könnte zu Versorgungsengpässen bei Treibstoff, Energie und Medikamenten führen. Auf den Kanalinseln müsste die Armee Lebensmittel abwerfen, im Landesinneren würden Unruhen drohen, heißt es in einem internen Planungsdokument, das ausgerechnet die regierungshörige Boulevardzeitung „The Sun“ zuletzt veröffentlichte.
Der Ausblick ist auch deshalb so düster, weil es den Briten nicht gelingt, tragfähige Alternativen für den Außenhandel mit der EU zu finden. Im Moment des EU-Austritts werde man „in Sekunden“ 40 Handelsabkommen mit allen Teilen der Welt fertig haben, versprach der frühere Wirtschaftsminister Liam Fox. Derzeit hat London 19 solcher Vereinbarungen unter Dach und Fach, dabei handelt es sich aber nur um die Anpassung bestehender Verträge, unter anderem mit Georgien, Kosovo und Liechtenstein. Nicht mehr als acht Prozent des bisherigen Handelsvolumens sind davon abgedeckt.

Keine Fortschritte gibt es bei den großen Akteuren: Die USA, nach der EU mit einem britischen Überschuss von zuletzt 47 Mrd. Pfund der zweitwichtigste Handelspartner Londons, sind längst von dem „very big deal“ abgerückt, den US-Präsident Donald Trump einst versprochen hatte. Ein Abkommen vor den US-Wahlen im November sei mittlerweile „fast ausgeschlossen“, erklärte zuletzt US-Verhandlungsführer Robert Lighthizer. Gerungen wird um die Forderung der US-Regierung nach freien Agrarexporten. „Wir sind zu keinem Kompromiss bereit“, drohte Lighthizer zuletzt. Das ist aber selbst der britischen Führung zu viel, nicht zuletzt wegen des Widerstands der Öffentlichkeit gegen US-Lebensmittelstandards. Nach Monaten vorauseilender Unterwerfung entgegnete Wirtschaftsministerin Truss zuletzt auf US-Drohungen neuer Tarife: „Keiner ist darüber empörter als ich.“

Auf eine Vereinbarung schon in den nächsten Tagen hofft man in London nun mit Japan, dem dreizehntgrößten Handelspartner. Das hatte man freilich auch schon vor einem Monat versprochen, und dennoch musste der japanische Außenminister Toshimitsu Motegi schließlich unverrichteter Dinge abziehen: Die Briten hatten in letzter Sekunde darauf bestanden, auch ihren Blauschimmelkäse (Stilton) in die Kategorie tariffreier Güter hineinzureklamieren. Dass ein Produkt, von dem im Jahr gerade einmal Waren im Wert von gut 100.000 Pfund exportiert werden, einen Vertrag über ein Handelsvolumen von fast 15 Mrd. Pfund torpedieren konnte, zeigt einmal mehr, dass nicht wirtschaftliche Vernunft der letzte Entscheidungsgrund ist: „Es geht um den politischen Willen“, sagt Michito Tsuruoka von der Universität Keio in Tokio.

Ebenfalls zum Himmel stinken könnte der Käse in den Verhandlungen mit Kanada, deren Wiederaufnahme in London nach der Sommerpause erwartet wird. Erste Verhandlungen scheiterten an britischen Tarifvorstellungen. Umgekehrt hat Kanada klargemacht, dass man den Briten keine besseren Konditionen als den EU-Staaten unter dem mühsam ausgehandelten Ceta-Abkommen gewähren wolle. Dem Blauschimmelkäse drohen damit neue Tarife. Eine Hintertür könnte der avisierte Beitritt Großbritanniens zur Transpazifischen Partnerschaft bieten, die unter anderem China und die USA umfasst und theoretisch 13 Prozent der Weltwirtschaft repräsentiert, aber derzeit von US-Präsident Trump lahmgelegt ist.

Bilateral verhandelt wird mit Australien und Neuseeland, aber selbst wenn die britische Regierung davon spricht: „Wir erwarten uns eine Beispielwirkung für die ganze Welt“, sieht die Realität anders aus: Ein Abkommen mit den USA würde nicht mehr als 0,16 Prozent Wachstum bringen, mit Australien und Neuseeland nur 0,01 und 0,03 Prozent, meint das Wirtschaftsministerium in London. Der ungeordnete EU-Austritt hingegen werde fünf Prozent BIP kosten.

Damit zeigt sich, was die Handelsverhandlungen für Großbritannien zu einem No-win-Szenario macht: Der Brexit war keine wirtschaftliche, sondern eine politische Entscheidung. Souveränität wurde über Wohlstand gestellt, und das bestimmt jetzt die Verhandlungslinie der Regierung. Die Bereitschaft, die EU-Gespräche scheitern zu lassen, hat den Druck erhöht, rasch Alternativen zu finden. London ging in die Gespräche ohne klare Strategie und Ziele, wie der Thinktank Institute for Government schreibt: „Die Regierung droht gegenüber besser vorbereiteten Verhandlungspartnern die Kontrolle zu verlieren.“

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