Pocken

"Die Schutzkraft der Impfung ist ein unglück­licher Wahn"

Darstellung einer Pockenimpfung in Paris, 1905
Darstellung einer Pockenimpfung in Paris, 1905(c) imago images / Photo12 (via www.imago-images.de)
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Die Geschichte der Impfskepsis ist so alt wie das Impfen selbst. Auch über Impfzwang wurde schon 200 Jahre vor Corona hitzig diskutiert.

„Bevor die gänzliche Überzeugung nicht vorhanden ist, dass die Vaccination ganz vor den natürlichen Pocken schütze, kann von Seite des Staates nicht zwangsweise vorgegangen werden“, erklärte 1811 Kaiser Franz I. in einer Resolution, mit der er eine allgemeine Impfpflicht gegen die Pocken ablehnte. "Nicht okay und in Wirklichkeit nicht machbar", formulierte Mitte August 2020 Gesundheitsminister Rudolf Anschober salopper, warum er sich eine Zwangsimpfung gegen Corona nicht vorstellen kann. Anders als andere europäische Länder haben verpflichtende Impfungen in Österreich kaum Tradition.

Im Fall der Pocken kam die Impfpflicht freilich doch noch – allerdings erst lange nach Franz I. und zu einem Zeitpunkt, als die Seuche in Österreich längst nicht mehr wütete. Im späten 18. Jahrhundert hatte die Krankheit allein in Europa noch jährlich etwa 400.000 Menschen getötet. Plötzliches Fieber, Schmerzen und Übelkeit plagten die Infizierten, bevor ihre Haut von eitergefüllten Pusteln übersät wurde. Rund jeder Vierte starb, die Überlebenden waren von Narben gezeichnet, manchmal auch blind oder taub geworden.

Pockenpusteln eines Patienten in Bangladesch, 1973
Pockenpusteln eines Patienten in Bangladesch, 1973(c) imago/UIG

Schon früh führte die Beobachtung, dass Genesene von der auch Blattern genannten Krankheit lebenslang verschont blieben, zu Versuchen einer Immunisierung. In China und Indien entstand die Vorstufe der Impfung, die Inokulation oder Variolation (nach dem lateinischen Namen der Pocken, Variolae). Dafür wurde etwa Eiter von Infizierten mit einem milden Krankheitsverlauf auf die Haut von Gesunden aufgetragen, um einen leichten Ausbruch der Pocken hervorzurufen.

Maria Theresias Kampf gegen die Pocken

Anfang des 18. Jahrhundert kam die Methode aus Asien nach Europa und Afrika. Die Frau des britischen Botschafters in Konstantinopel, Lady Mary Wortley Montague, machte sie in England bekannt. Auf dem europäischen Kontinent verbreitete sich die Variolation nur schleppend. Kaiserin Maria Theresia, die drei Kinder an die Pocken verloren und sie 1767 selbst nur knapp überlebt hatte, ließ vier ihrer Kinder immunisieren und ein Inokulationshaus in Wien errichten.

Die Variolation zeigte Erfolge, doch ein kleiner Teil der Behandelten starb, wurde mit anderen Krankheiten infiziert oder steckte wiederum andere Menschen an. Die bahnbrechende Weiterentwicklung hin zur modernen Impfung gelang dem britischen Wundarzt Edward Jenner. Er wusste um die bäuerliche Erfahrung, dass Melkerinnen, die sich mit den Kuhpocken infiziert hatten, nicht mehr an Menschenpocken erkrankten. Die Beobachtung hatte schon zu früheren Impfversuchen mit Kuhpocken geführt, doch Jenner war der erste, der wissenschaftlich vorging und publizierte. Der achtjährige Sohn seines Gärtners musste als Versuchsobjekt herhalten. Aus der Pustel des Armes einer Milchmagd entnahm der Arzt den Stoff, den er am 14. Mai 1796 mittels zweier oberflächlicher Hautschnitte auf den Arm des Buben applizierte. Als dieser nach leichter Erkrankung wieder gesund war, infizierte Jenner ihn mit dem Pockenvirus – der Bub blieb gesund. „Vaccination“ nannte Jenner die Methode, nach lateinisch „vacca“ für Kuh.

Edward Jenner
Edward Jenner(c) imago/imagebroker (imageBROKER/Collection Jaime Abecasis)

„Die Impfung tötet"

Die „englische Methode“ verbreitete sich rasch über Europa. 1800 fand in Brunn am Gebirge eine Massenimpfung statt, die erste außerhalb Englands. Ebenso schnell formierte sich aber auch die Impfskepsis. „Die Impfung tötet, die Impfung tötet scharenweise, sie tötet rasch und tötet schleichend und schafft als Rest ein zahlloses Heer von Krüppel und Siechen“, warnte einer der größten Impfgegner unter der Ärzteschaft, Heinrich Oidtmann.

Impfgegner formierten sich in Vereinen und auf Kongressen, einheitlich war die Bewegung aber nie. Während Strenggläubige die Pockenimpfung als Eingriff in die göttliche Vorsehung kritisierten, propagierte die Lebensreformbewegung die Stärkung der natürlichen Abwehrkräfte. Andere machten sich schlicht Sorgen über Risiken und Nebenwirkungen – nicht ganz unbegründet: Im Schnitt starb von 15.000 bis 20.000 geimpften Kindern eines. Zudem hielt die Immunität gegen die Pocken oft nur eine begrenzte Zeit an. Eine teils unqualifizierte und nachlässige Durchführung der Impfung dürfte der Hauptgrund gewesen sein.

So führte die Kritik der Skeptiker letztlich zu einer Verbesserung der Impfpraxis - die Einführungen von Impfpflichten konnte sie aber nicht überall verhindern. 1807 erließ Bayern einen Impfzwang, Russland, Großbritannien und das deutsche Reich folgten. Dem deutschen Reichsimpfgesetz von 1874, das die Impfung für alle Kinder vorsah, gingen hitzige Debatten im Reichstag voran und folgte noch jahrzehntelang eine Flut von Petitionen für seine Aufhebung.

Werbepflicht statt Impfpflicht

In Österreich ging man einen anderen Weg: Werbepflicht statt Impfpflicht. Seelsorger mussten bei der Taufe „Hausbriefe“ an die Eltern verteilen, in denen zum Impfen des Neugeborenen aufgerufen wurde. Mehrmals im Jahr hatten die Geistlichen zudem, so schrieb es ein Hofkanzleidekret von 1804 vor, von der Kanzel herab an die „elterliche Pflicht“ zur Impfung zu erinnern. Niederösterreichische und Wiener Ärzte mit den höchsten Impfzahlen wurden finanziell und mit einer Erwähnung in der Zeitung belohnt.

Als die Impfraten dennoch unter den Erwartungen blieben, folgte indirekter Zwang: Ungeimpfte waren ab 1808 etwa von Stipendien und der Aufnahme in Waisenhäuser ausgeschlossen. Auch sozialer Pranger übte Druck aus: Eltern, die die Impfung ihrer Kinder verweigerten, sollten in der Stadt via Zeitung und auf dem Land via Predigt bloßgestellt werden „als vom Vorurteile geblendete Menschen, welche ihre Angehörigen lieber in der schmerzvollen Krankheit der Blattern zu Grund gehen oder verkrüppelt lassen“.

Der Streit um eine allgemeine Impfpflicht währte noch jahrzehntelang. Der Salzburger Landtag und ein Komitee der k.k. Gesellschaft der Ärzte machten sich dafür stark, während etwa Friedrich Wilhelm Lorinser, Direktor des Krankenhauses Wien-Wieden, wetterte: „Die Impfung hat gegenüber den Pocken die Bedeutung eines Amuletts, das sich der Soldat umhängt, um sich kugelsicher zu machen. Die Schutzkraft der Impfung ist illusorisch, ein unglücklicher Wahn.“

Risiko durch Alliierte befürchtet

Auf Betreiben von Kronprinz Rudolf wurde 1886 der Impfzwang beim Heer eingeführt, 1888 auch in Haftanstalten. Nach dem „Anschluss“ 1939 galt die deutsche Impfpflicht für Kinder auch in Österreich. 1923 war in Vorarlberg der letzte Pockenfall registriert worden, dennoch wurde die Verpflichtung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beibehalten. Das wurde nicht nur mit einer zunehmenden Impfmüdigkeit begründet, sondern auch mit der Gefahr der Einschleppung der Pocken aus dem Ausland - „vor allem auch der Alliierten in Österreich“, wie es im Ausschussbericht von 1948 hieß. Schließlich hätten die lokalen Behörden nicht die Befugnis, Quarantänemaßnahmen über Besatzungssoldaten zu verhängen. Erst 1977 fiel die Impfpflicht.

1966 blies die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Feldzug gegen die Pocken, an denen zu diesem Zeitpunkt noch etwa 2,5 Millionen Menschen jährlich erkrankten. Die Voraussetzungen waren gut: Der Erreger kommt ausschließlich im Menschen vor, Infizierte zeigen stets typische Symptome und der Impfstoff ist hochwirksam. Von der WHO beauftragte Teams zogen durch betroffene Regionen wie Bangladesch und Somalia, spürten Infizierte auf und impften alle in deren Umfeld.

Children of Cameroon with their vaccination certificates after having been vaccinated against smallp
Children of Cameroon with their vaccination certificates after having been vaccinated against smallp(c) imago/UIG

1979 wurde die Welt für pockenfrei erklärt, nur noch in Labors schlummert das Virus seither. Bis heute sind die Pocken der einzige menschliche Erreger, der weltweit ausgerottet werden konnte.

Kann die Pocken-Erfolgsgeschichte wiederholt werden?

1988 startete die WHO eine Kampagne, um die Kinderlähmung (Polio) bis zum Ende des Jahrtausends auszurotten. Das Ziel wurde verfehlt, die Zahl der Ansteckungen aber drastisch gesenkt: von weltweit 350.000 registrierten Fällen im Jahr 1988 auf 542 im vergangenen Jahr (hauptsächlich in Afghanistan und Pakistan). Erst vor wenigen Tagen wurde verkündet, dass der Wildtyp des Poliovirus in Afrika ausgerottet ist.

Geeignete Kandidaten für eine Ausrottung wären grundsätzlich auch Röteln und Masern. An letzteren starben zuletzt weltweit rund 140.000 Menschen im Jahr. In Österreich liegt die Durchimpfungsrate bei den Zwei- bis Fünfjährigen derzeit bei ungefähr 82 Prozent. Zur Ausrottung wären 95 Prozent erforderlich.

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