Gastkommentar

Moria: Zur Kritik der zynischen Vernunft

Eine Frau flieht mit einem Kind am 9. September vor dem Feuer im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos.
Eine Frau flieht mit einem Kind am 9. September vor dem Feuer im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos. APA/AFP/ANGELOS TZORTZINIS
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Die jüngsten Entwicklungen im Flüchtlingslager Moria und die Reaktion Österreichs sind erschreckend. Warum der Appell an die Vernunft des Außenministers so fehlgeleitet ist.

Mit Entsetzen, wenn auch nicht mit Überraschung, habe ich am Mittwoch das „ZiB 2"-Interview mit Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg anlässlich des Brandes im Flüchtlingscamp Moria angesehen. „Wenn es Bedarf an Decken und Zelten gibt, wird Österreich natürlich helfen“ Obwohl immer mehr Städte, Gemeinden und Bundesländer in Österreich wie in Deutschland anbieten Menschen auf der Flucht aufzunehmen, stellt er sich gegen jegliche Forderung nach Aufnahme dieser Menschen. Seine Begründung: Man müsse in der Sache vernünftig bleiben statt emotional zu reagieren. Die Frage ist jedoch: Von welcher Vernunft sprechen wir hier?

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Zu Beginn der Corona-Pandemie wurde feierlich die Solidarität heraufbeschworen. Sozialleistungen und Unterstützungen für Menschen wie Betriebe, der private wie der Arbeitsalltag wurde von heute auf morgen radikal umgekrempelt. Was kurz davor als  undenkbar gegolten hätte, als unverhältnismäßig, hysterisch und viel zu emotional, wurde plötzlich zur einzig vernünftigen Antwort. Wo heute die Solidarität im Angesicht der im Mittelmeer treibenden Leichen und der in Moria zusammengepferchten Menschen als unvernünftig gilt, so wurde die Solidarität angesichts der Bedrohung durch die Corona-Pandemie in Österreich als einzig vernünftige Antwort hochgehalten und per Polizeilautsprecher durch die Straßen gebrüllt.

So schön es war, zu sehen was alles möglich ist, wenn der Wille existiert, so bitter war der Nachgeschmack der nationalen Solidarität und der zynischen Vernunft, die auch schon Anfang des Jahres nicht zu einem Bruch mit der Menschenverachtung führte, wenn es um jene ging, die zufällig ohne österreichischen Pass geboren wurden.

„Es geht eben nicht ohne hässliche Bilder"

Die zynische Vernunft empört sich gerne über gewalttätige Migranten und Migrantinnen, die sicher kein Asyl verdient hätten, und verliert dabei kein Wort über die gewalttätigen Verhältnisse, unter denen diese Menschen gezwungen werden zu leben oder zu sterben. Gewalttätige Verhältnisse, in denen sich Kinder wie Erwachsene aus Verzweiflung das Leben nehmen, während die reichsten Länder der Erde schulterzuckend behaupten, sie hätten keinen Platz und es geht eben nicht ohne hässliche Bilder. Gewalttätige Wirklichkeiten die natürlich auch gewalttätige Reaktionen hervorrufen, in den meisten Fällen gegen die jeweils eigenen Körper und damit auch ohne große Empörung von Seiten Österreichs oder der EU.

Die zynische Vernunft, die sich gerne als die einzige bzw. als die wahre Vernunft präsentiert, spricht viel über die Gefahr durch die sogenannte illegale Migration und schweigt jedoch in lächelnder Gelassenheit darüber, dass mit dem falschen Pass eine Flucht immer nur als illegale Migration und ausschließlich mit Zuhilfenahme von Schlepper und Schlepperinnen stattfinden kann; ganz unabhängig davon, wie nett sie die Kunden und Kundinnen behandeln.

Die zynische Vernunft fürchtet sich vor der falschen Symbolik, die die Rettung von Menschen in Seenot haben könnte, sie fürchtet sich jedoch nicht vor der Symbolik der vor den Augen der Küstenwache Ertrinkenden und Verdurstenden, sie fürchtet sich nicht vor Finanzierung der sogenannten Lybischen Küstenwache, die Menschen vergewaltigt, einsperrt und auf die unsagbarsten Formen misshandelt; und sie fürchtet sich nicht vor der Symbolik der an den Ferienstränden angeschwemmten aufgeblähten Körper.

Das Argument, die Rettung von Menschenleben hätte schlechte Symbolwirkung und wäre ein gefährlicher Pullfaktor, ignoriert, dass trotz der extrem menschenverachtenden Migrations- und Asylpolitik Österreichs im Besonderen wie der EU im Allgemeineren, die schon seit Jahren im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gehen, Menschen trotzdem weiter die lebensgefährliche Fluchtruten beschreiten. Die Menschen versuchen es nach Europa zu schaffen, auch wenn sie dabei ihr Leben riskieren.

Schallenberg betonte in der „ZiB 2“, dass sich keinesfalls die verheerende Situation von 2015 und 2016 wiederholen dürfe. „Niemals wieder!" scheint sich zuletzt immer weniger auf den Nazi-Faschismus zu beziehen und immer mehr auf den Sommer der Migration 2015. Natürlich braucht die Aufnahme von Geflüchteten Zeit und Kapazitäten. Diverse Studien zeigen jedoch sehr deutlich, dass die Helfenden in Österreich vor allem die menschenverachtenden gesetzliche Regelungen hinderlich und erschütternd fanden, viel mehr als sie die Arbeit mit den Geflüchteten selbst belastete. Die Begegnungen zwischen Österreichern und Österreicherinnen und Neuangekommen führte nicht nur zu lebensentscheidenden Lernprozessen darüber, was es bedeutet schon lange in einer ungleich-globalisierten Welt zu leben, sondern auch zu langwährenden tiefen Freundschaften.

Alle diese positiven Erfahrungen geraten leicht in Vergessenheit, wenn der Tenor lautet, alle Probleme hätten 2015 begonnen. Manchmal könnte man annehmen, es hätte vor 2015 weder Antisemitismus noch sexualisierte Gewalt in Österreich gegeben – ein kurzer Blick in die österreichische Geschichte verrät uns das traurige Gegenteil.

Im Regierungsprogramm wird auf Seite 14 die „Verankerung der Menschenwürde“ zur Stärkung der Grund- und Menschenrechte festgehalten. Solange die Solidarität lediglich jenen mit österreichischem Pass gilt, wäre es wohl ehrlicher hier nicht von der Würde des Menschen, sondern von der Würde der Österreicher zu sprechen. Würde es der Bundesregierung an der Menschenwürde liegen, dann würde die Solidarität und Parteilichkeit der Volks-Partei nicht nur dem Volk gelten, sondern sie würde zu aller erst dem Menschen gelten, selbst – welch radikaler Vorschlag – wenn sie keinen österreichischen Pass besitzen. Das würde bedeuten:

1) Eine sofortige Aufnahme der Menschen, die bis vor kurzem in Moria zusammengepfercht leben mussten. Es gibt in Österreich wie in Deutschland (sogar im CDU-geführten Bayern) bereits viele Städte, Gemeinden und Bundesländer, die sich für die direkte Aufnahme einsetzen – Problemlösungen von unten, die jedoch bis dato nur auf Widerstand der österreichischen Bundesregierung stoßen.

2) Ein Stopp der mörderischen Politik des Ertrinkenlassens von Menschen im Mittelmeer und der Kriminalisierung von Seenotrettern und -innen.

3) Eine gerechte Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU. Es kann nicht sein dass Italien und Griechenland alle Menschen auf der Flucht aufzunehmen hat, während jene Staaten, die finanziell weitaus besser dastehen, zynisch behaupten, es gebe keinen Platz.

4) So wenig es zur Debatte steht, ob es COVID-19 und die Notwendigkeit der entsprechenden Vorsicht gibt, so wenig es den Bürgern und Bürgerinnen freisteht soviel Steuern zu zahlen wie es ihnen jeweils gerade gefällt, genau so wenig sollte es auch den Staaten und den Regierung der EU freistehen, ob sie Menschen in Not aufnehmen wollen oder nicht. Das Recht auf Asyl ist keine Frage des persönlichen Geschmacks dieser Regierungschefin oder jenes Regierungschefs. Im Libanon, ein Land mit weitaus schlechterer finanzieller Situation als Österreich und mit einer Fläche kleiner als Oberösterreich leben zur Zeit 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge. Nicht die Blockade, sondern bereits der Vorschlag 100 Flüchtlingskinder aufzunehmen ist angesichts dieser Wirklichkeit im besten Fall beschämend. Soll die Rede von Menschenrechten und Menschenwürde irgendetwas anders als eine hohle Floskel sein, so ist es für den Bruch mit der schulterzuckenden zynischen Vernunft höchst an der Zeit.

Der Autor:

Niki Kubaczek ist Soziologe, Teil der Redaktion von transversal texts (transversal.at), des Netzwerks für kritische Grenzregime- und Migrationsforschung kritnet sowie des Sektionsrat für Rassismus- und Migrationsforschung der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie.

Ende des Jahres erscheint bei transversal texts das Buch „Die Stadt als Stätte der Solidarität?“, gemeinsam herausgegeben mit Monika Mokre.

Niki Kubaczek.
Niki Kubaczek. Beigestellt

E-Mails: debatte@diepresse.com

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