Ferrari

Sergio Scaglietti: Der Spengler seines Fürsten

Sergio Scaglietti, hier in seinen Achtzigern, war der geniale Handwerker, der in der Ferrari-Frühzeit die fantasievollsten Modelle schuf.
Sergio Scaglietti, hier in seinen Achtzigern, war der geniale Handwerker, der in der Ferrari-Frühzeit die fantasievollsten Modelle schuf.(c) Beigestellt
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Sergio Scaglietti dengelte die schönsten Ferraris, und in Modena sagten sie: Wie Leonardo.

Das neue Modell Ferrari Roma spielt mit der Verklärung der 1950er- und 60er-Jahre. Keine schlechte Vorlage. Es waren die Zeiten, als man im Kino beim Striptease noch halb ohnmächtig wurde, und fröhliche Spengler zogen eine Alu-Platte über ein nacktes Fahrgestell und dengelten eine Form für einen, sagen wir, GTO, der jetzt 87 Millionen Euro kostet. Wir verharren eine Sekunde und wollen uns das in Lire vorstellen, zuerst die vielen, vielen Nullen, dann die gebündelten Lappen, groß wie Schneuztüchln.

Sergio Scaglietti war 22 Jahre jünger als Enzo Ferrari und von ganz schlichter Herkunft aus Modena, mit jenem schweren Dialekt, den sie schon in Florenz kaum verstehen. Ferrari war vom gleichen Revier und gleicher Art, nur sollte er zwischendurch den Weltmann spielen.

Scaglietti lernte Karosseriespenglerei, auf der anderen Straßenseite war die Scuderia Ferrari daheim, die in der Vorkriegszeit das Renngeschäft für Alfa Romeo betrieb. Jeden Dienstag kamen die mehr oder weniger verwundeten Autos zurück vom Rennwochenende und mussten bis Freitag wieder einsatzfertig gemacht werden, Rennen gab's an jedem Sonntag. Immer öfter tauchte der Ragazzo von gegenüber auf und machte sich nützlich.

Nach dem Krieg lief's manchmal umgekehrt, da ging Ferrari über die Straße und staunte über die Fantasie des Jungen, der beschädigte oder fehlende Teile einfach frisch erfand, aus Blech, dann auch Alu. Bis Ferrari das nackte Fahrgestell eines sehr gebrauchten 166 hinüberschieben ließ – was dem jungen Mann, nun doch schon 33, dazu einfallen würde?

Um unserer Vorstellung ein bissl auf die Sprünge zu helfen: Die Rohrrahmen-Chassis jener Sportwagen waren natürlich selbsttragend, der Spengler konnte unbelastet ans Werk gehen, musste sich nicht einordnen ins physikalische Ganze. Er spannte Längs- und Querdrähte über ein paar Holzspanten, darüber dengelte er die Aluplatten nach Augenmaß und Fantasie. Mit seinen dann schon fünfzehn Mitarbeitern brauchte Scaglietti eine Woche pro Auto, und natürlich sah jedes um einen Hauch anders aus als das andere. Mehr als drei oder vier Autos von einer Art wurden sowieso nicht gebaut, und selbstverständlich gab es Dutzende andere „Spengler“ in diesem unvergleichlichen Italien, wo die Fantasie schneller ins Fliegen gekommen war als sonstwo in den Nachkriegsjahren.

Ferrari ließ manche Fahrwerke von vier oder fünf Carossiers schmücken, am liebsten von Pinin Farina, der allerdings im entfernten Turin saß und nicht auf der anderen Straßenseite in Modena. Ferrari brauchte auch einen Edelspengler für Sonderfälle, einen, mit dem er zwischendurch quatschen konnte in einer Sprache, in der man sich nicht zieren musste (Farina war gegen Ferrari vergleichsweise von Piemonteser Adel).

1955 hatte Ferrari ein Renn-Chassis, Pinin Farina hatte eine Idee und Sergio Scaglietti dengelte ein Meisterwerk namens Testa Rossa (das Original, nicht zu verwechseln mit den Wiederauferstehungen des Namens).

»Scaglietti wurde als Genie erkennbar, ein Bildhauer für die Werkstoffe Blech und Alu.«

Scaglietti, noch immer Spengler, war plötzlich die erste Adresse für Menschen, die in „Dolce Vita“-Jahren Probleme hatten. Ingrid Bergman dürfte bei Rossellini erwähnt haben, dass in der Barchetta (= offen, Spyder, Roadster) ihre Frisur zersaust werde, worauf Rossellini die Sache mit Scaglietti besprach und sie zu der Lösung kamen, den 375 Mille Miglia auf ein Coupé umbauen zu lassen. Sechzig Jahre danach gewann dieses Auto den tollsten Concours d'Elegance der Welt, und wir könnten natürlich nachschauen, was das Auto heute wert ist, aber es würde uns vielleicht den Abend verderben.

Übrigens stößt man bei den tollen Autos der Epoche nie auf den Film „Dolce Vita“ (Anita Ekberg kam offensichtlich mit dem Bus und Mastroianni fuhr einen Triumph TR3), aber immer wieder auf Ingrid Bergman, in die ganz Italien offensichtlich viel nachhaltiger verknallt war als sich unsereins das heute zusammenstoppeln kann. Für ein Heidengeld wurden eh schon sündteure Autos umlackiert auf „Giallo Ingrid“, ein Gelb, das natürlich kein Gelb war, sondern ein Schimmer von Blond, das einen Hauch von Gold hatte, oder Silber, je nach Lichteinfall und überhaupt, ob die Bergman lächelte oder dreinschaute wie in Casablanca.

Es stellte sich immer mehr heraus, dass Scaglietti ein Genie war, ein Bildhauer für die Werkstoffe Blech und Alu, später speziell Alu. Ferrari zog mit ihm die aufregendsten Einzelstücke und Kleinserien durch, vom Testa Rossa über den „kurzen“ 250 GT zum GTO.

Berühmte Kunden kamen zu dem edlen Handwerker, etwa König Leopold von Belgien, der wollte ein ganz rundes Heck, und Scaglietti sagte, Hoheit, ich mach' es Ihnen wie ein Ei. Zum Dank kam der König nächstes Mal mit dem Gastgeschenk zweier prachtvoller Tauben. Scaglietti, um seine Freude auszudrücken, sagte, die kommen gleich am Sonntag in die Pfanne, der Übersetzer konnte das ärgste verhindern: Es waren Champion-Brieftauben, die auf tausend Kilometer ihren Stall fanden, près de Bruxelles.

Die schönsten Autos aus der Heritage von Ferrari und Scaglietti gerieten in die reichsten Hände und an die klügsten Hunde.
Die schönsten Autos aus der Heritage von Ferrari und Scaglietti gerieten in die reichsten Hände und an die klügsten Hunde.(c) Beigestellt

Scaglietti übersiedelte in eine größere Werkstatt an der Via Emilia Est und wurde reich und berühmt, Ferrari wurde noch viel reicher und berühmter und kaufte 1973 die Fabrik des Scaglietti.

Je größer das Getöse der äußeren Welt rund um die Wunder von Modena und Maranello wurde, umso enger fanden sich die beiden zusammen, Burschen vom Grund. Ferrari würde ihn immer mit „Scaglietti“ anreden und duzen, Scaglietti würde ihn immer siezen und mit „Ingenieur“ ansprechen, was als „Ingegnere“ im Modeneser Slang sehr viel besser rüberkommt.

Ferrari war ein Mann der Rituale, übrigens eines der Geheimnisse des heutigen Mythos Ferrari. Dazu gehörte, dass er jeden Samstag Scaglietti anrufen würde (nie umgekehrt). Ferrari würde beiläufig fragen: „Was treibst du so, Scaglietti?“, und der würde antworten „Nichts, Ingegnere.“


Daraufhin würden sie sich zum Essen verabreden, zwanzig Jahre lang an jedem Samstag, solang es die Gesundheit des Ingegnere erlaubte, also bis etwa 1984. Sie redeten über Autos und Rennen und Frauen, später mehr über Frauen und Autos und Rennen. Dazu wurde der süßliche, pickerte, brausige Vino Lambrusco getrunken, das war seit Jahrhunderten die Muttermilch der Region Modena, und wenn das Ferrari-Team nach Le Mans reiste, hatten sie ein paar Kisten Ersatzteile und vielleicht ein paar mehr Kisten Lambrusco dabei. Da die schweren Essen etliche Stunden dauerten, war auch jedesmal Platz für Ferraris Jugenderinnerung an das Armeespital in Bologna, wo nebenan die Särge gezimmert wurden und Ferrari jeden einzelnen Nagel hörte. Er starb aber erst siebzig Jahre nach dem Hämmern, und Sergio Scaglietti lebte noch weitere 23 Jahre bis 2011.

Dazwischen war noch das Jahr 2004. Scagliettis Spenglerei war zu einer hochmodernen Vorzeigefabrik der Firma Ferrari geworden, vielleicht zum appetitlichsten Betrieb, den man sich in heutiger Serienfertigung vorstellen kann. Enzo Ferraris Erben beschlossen, das neue Modell 612 „Scaglietti“ zu taufen, eine Ehre, wie sie bis jetzt noch kein Lebender erfahren hatte, und, wie wir wissen, gehen sie bei Ferrari ja nicht leichtfertig mit Heiligsprechungen um, außer es geht um den Chef.

»Heuer gedachte die Community des hundersten Geburstages von Sergio Scaglietti.«

Sergio Scaglietti hatte kein Bedürfnis, bei der Pressevorstellung „seines“ Autos dabei zu sein, aber ich hatte drum gebeten, ob ich ihn vielleicht extra treffen dürfte. Wir machten es so einfach wie möglich, und das war gut, aber doch zum Heulen, weil ich keinen Fotografen und keinen Übersetzer dabei hatte. Wir nahmen Caffè in Modena, in der Via Trieste, wo er seit Vorkriegszeiten seinen Ristretto trank, und er sah fabelhaft aus, in der Art, in der Italiener auf allerschönste Weise alt werden, er war sehr liebenswürdig und ich stammelte mein Italienisch, und insgesamt war es fantastisch. Manchmal blitzten links unten in seiner Freundlichkeit ein paar kräftige Plomben auf, irgendwas zwischen Eisenfresser und den Farben des Wohlstands.

Heuer gedachte die Community des hundertsten Geburtstags von Sergio Scaglietti. Sein Werk, sein Haus, seine Hallen sind immer schöner geworden, und „Stabilimento Scaglietti“ in Modena ist das sympathischste Werk der ganzen Ferrari-Gruppe. Die Anmutung ist eher die einer Kunsthalle, und der Anteil an händischem Feinschliff bei den Alu-Karosserieteilen erklärt einiges vom sagenhaften Preis des Produkts. So soll es sein, denkt der Spengler. ende

("Die Presse - Fahrstil", Print-Ausgabe, 26.09.2020)

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