Literatur

„Untertauchen": Das Märchen von Gretel

Daisy Johnson wurde mit ihrem Debütroman zur jüngsten Finalistin für den Man-Booker-Preis.
Daisy Johnson wurde mit ihrem Debütroman zur jüngsten Finalistin für den Man-Booker-Preis. Pollyana Johnson
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Die junge Britin Daisy Johnson verwebt in ihrem Roman „Untertauchen" alte Mythen und Schauergeschichten mit modernen, toxischen Familienkonstellationen.

Sie heißt Gretel, und das ist kein Zufall. Vor 16 Jahren verschwand plötzlich ihre Mutter Sarah, seither sucht die eigenbrötlerische junge Frau nach ihr. Damals war auch ein Hänsel im Spiel, auch wenn dessen Name Marcus war. Er ist die einzige Brotkrümelspur, der Gretel in das Dickicht ihrer Vergangenheit folgen kann.

„Untertauchen“ ist der erste Roman der jungen Britin Daisy Johnson. Sie war erst 27, als sie damit 2018 im Finale des englischen Man-Booker-Preises landete und die jüngste Anwärterin jemals auf diese Auszeichnung wurde. Nachdem sie bereits ein Jahr an „Everything Under“ (so der Originaltitel) geschrieben hatte, stellte ihr Lebensgefährte ihr ein selbst gebasteltes Schild auf den Schreibtisch: „Ich glaube, dass dieses Buch wirklich verdammt gut wird. Daisy Johnson“.

Dieser Glaube an sich unter widrigen Umständen zeichnet auch die junge Gretel aus. Das stellt sie in eine Reihe mit jenen Mädchen, die sich in einer feindlichen Umwelt oder gegen toxische Elternteile behaupten müssen und die die moderne Literatur gerade so liebt: Adeline Dieudonnés „Das wirkliche Leben“, Gabriel Tallents „Mein Ein und Alles“ und Anna Burns' „Milchmann“ holen die Figur des wehrhaften Mädchens vor den Vorhang.

Einsames Leben am Fluss. Gretels Nemesis heißt Sarah und ist ihre Mutter. Die beiden Frauen leben auf einem baufälligen Hausboot am Fluss Isis (wie die Themse von ihrer Quelle in den Cotswolds bis Dorchester in Oxfordshire auch genannt wird). Sarah trichtert ihrer Tochter nicht nur ein, dass die Leute am Fluss eine eigene Gemeinschaft außerhalb der Gesellschaft sind. Sie erfindet auch eine gemeinsame Sprache, die nur Mutter und Tochter sprechen (Hut ab vor Übersetzerin Birgit Maria Pfaffinger). „Schmuschmu“ ist etwas Angenehmes, „Gesprungs“ sind alle möglichen Dinge, „Uffzeit“ ist Auszeit. Damit isoliert sie Gretel noch mehr und bindet sie fester an sich.

Das Ausmaß von Gretels Außenseitertum wird erst sichtbar, als die Mutter plötzlich weg ist. Zu diesem Zeitpunkt ist Gretel 16. Die verlorenen Wörter wird sie später im Rahmen ihrer Tätigkeit für einen Wörterbuchverlag suchen, ebenso hartnäckig wie sie in Leichenschauhäusern und Spitälern nach ihrer Mutter forscht. Als einzige Spur stößt sie dabei auf Marcus, der zuletzt eine Zeit lang bei den beiden Frauen auf dem Boot gelebt hat. Gretel findet heraus, dass Marcus in Wahrheit ein Mädchen namens Margot und ein Findelkind war. Seine Adoptiveltern verließ er plötzlich in einer Nacht, nachdem eine mysteriöse Freundin der Familie ihm prophezeit hatte, dass er ihnen Schlimmes antun würde.

Das Böse heißt Bonak. Zu diesem Zeitpunkt lässt Daisy Johnson den Leser in die ganze Bandbreite ihres nebelverhangenen, träumerischen, aber auch unangenehmen Universums eintauchen, in dem Wahrheit und Traumwelt nicht immer voneinander zu unterscheiden sind und ein böses Wesen namens Bonak umgeht. „Geschichte“ hat in diesem Fall viel mit „Schicht“ zu tun, und diese legt Johnson behutsam frei: Aus drei verschiedenen Blickwinkeln und in Zeitsprüngen. Am Anfang jedes Kapitels muss man genau schauen, um zu wissen, in welcher Zeit und in welchem Kopf man sich gerade befindet: „Das Cottage“ erzählt die Geschichte aus der Perspektive der erwachsenen Gretel, nachdem sie ihre mittlerweile demente Mutter gefunden hat; „Die Jagd“ schildert Gretels Suche nach ihr; „Am Fluss“ greift die Geschichte aus der Sicht von Marcus auf, der versucht, seinem Schicksal zu entkommen.

Doch nachdem dieser Geschichte ein griechischer Mythos zugrunde liegt, könnte das schwer werden. Die alten Griechen kannten keine Gnade.

„Untertauchen“ ist eine Herausforderung. Abgesehen von den wechselnden Perspektiven und der eigentümlichen Sprache ist hier alles ständig im Fluss. Die Charaktere verändern sich, ihre Geschlechter sind zum Teil fluide, ihre Beziehungen klären sich, um gleich darauf wieder zu verschwimmen. Dieser Roman erfordert Arbeit. Wie schön, dass sie sich auszahlt.

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