Leitartikel

Wunderheiler helfen nicht mehr, sondern Klarheit und Härte

APA/AFP/ANDREW CABALLERO-REYNOLD
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Egal ob in den USA oder in Österreich: Pathos und Heilsversprechen klingen schön, aber helfen nicht, Gräben zu schließen.

Joe Biden kann also nicht nur tänzeln, sondern auch gute Reden halten – vielleicht spricht er nicht so schaurig-unterhaltsam wie Donald Trump und so messianisch-euphorisch wie Barack Obama, aber handwerklich sehr ordentlich. Bei seinem ersten Auftritt an der Seite seiner Vizepräsidentin, Kamala Harris, verströmte der mutmaßliche 46. Präsident der USA das, was die Welt von den USA erhofft: politische Berechenbarkeit und Verlässlichkeit.

Nun übernimmt ein Profi das Weiße Haus, der vielleicht den Höhepunkt seiner Karriere besser schon vor einigen Jahren hätte stemmen sollen und wollen. Der Mann versteht das internationale politische Handwerk ebenso wie die Organisation und personelle Aufstellung einer Regierungsmannschaft. Wenn er aber davon spricht, dass er die geschundene amerikanische Nation „heilen“ will, ist das naiv bis gefährlich. Schon Michael Jackson wollte in einem seiner Songs die Welt heilen und besser machen – mit überschaubarem Erfolg. Es ist nicht die Zeit für selbst ernannte Wunderheiler, sondern für pragmatische, lösungsorientierte Handwerker. Also eigentlich für die Joe Bidens dieser Welt.

Fast die Hälfte der Wähler haben sich für Donald Trump entschieden, der das radikale Gegenteil verkörpert und dessen Anhänger nicht mit salbungsvollen Worten ins Boot geholt werden können. Im Gegenteil: Die erreicht man, wenn, nur mit radikaler Ehrlichkeit. Die da lautet: Aufgrund der Pandemie bleibt es – ähnlich wie in Europa – gesundheitspolitisch und wirtschaftlich schwierig bis katastrophal. So gute Wirtschaftsdaten und eine so geringe Arbeitslosigkeit, wie sie Donald Trump noch 2019 als vermeintlich eigenen Verdienst präsentieren konnte, wird Biden noch länger nicht verkünden können.

Demokraten und Republikaner sind inhaltlich wesentlich weiter voneinander entfernt als jeweils die meisten sozialdemokratischen und konservativen Parteien in Europa. Soll heißen: Bidens Partei ist keine liberale Partei, Trumps Republikaner keine Mitte-rechts-Partei. Die „Heilung“ könnte schwierig werden, vor allem wenn Biden den Traum vieler europäischer Publizisten wahr werden lässt und weiter nach links ausschert. Er konnte diese Wahl nur gewinnen, weil er sich in die Mitte bewegte, das ist seine einzige Chance, auch für die USA. Mit entsprechender Wirtschafts- und Steuerpolitik kann es, wie schon nach der Finanzkrise, gelingen, schneller als Europa auf den Wachstumspfad zurückzukehren. Dafür muss Biden schleunigst reinen Wein einschenken: Manche Industrien in seinen eben gewonnenen Swing States sind verloren, andere brauchen gute Standortbedingungen, um sich dort anzusiedeln.

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