Es ist eine Überlebensfrage für die Kirchen: die Entscheidung für den Weg als Kirche oder den Weg zur Sekte. Die Differenz zwischen Ritus und Glaube könnte sich in unseren Tagen als relevant erweisen.
Es war einmal – so fangen üblicherweise Märchen an. Aber nicht alles ist ein Märchen, was so beginnt. Es waren die späten 1950er- und die frühen 1960er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Im südlichen Niederösterreich, im Dekanat Kirchberg am Wechsel, war jede noch so kleine Pfarre mit einem Pfarrer besetzt, der zugleich in der dörflichen Schule die Kinder im Fach Religion unterrichtete. Das war in Kirchberg so, in Haßbach, in Kirchau, in Kranichberg, in Feistritz, in Trattenbach, in Sankt Corona und so weiter. Jeden Sonntagnachmittag gab es in jeder Kirche eine Segensandacht, von den Leuten schlicht „Segen“ genannt. An jedem Wochentag wurde eine Messe gefeiert – wobei der Ausdruck „gelesen“ die Realität treffender beschreibt.
Kirchberg war anders. Dort gab es zum Pfarrer noch einen Kaplan, zu früheren Zeiten sogar zwei. Daher gab es am Sonntag drei, an den Wochentagen zwei „heilige Messen“ – von „Eucharistiefeier“ war noch nicht die Rede. Die Spätmesse am Sonntag wurde zumeist als feierliches Hochamt gefeiert, mit Weihwasser („Asperges“), Weihrauch und einer ganzen Schar Ministranten. Einer der beiden „Hochwürden“, wie die Herren angesprochen wurden, feierte die Messe, während der andere im Beichtstuhl saß. An Wochentagen wurde das lateinische Gemurmel des Priesters und der Ministranten übertönt vom Rosenkranzgebet der Gläubigen.