Türkei: Angriff auf letzte Bastionen der Kemalisten

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Am Sonntag stimmen die Türken über eine Verfassungsänderung ab. Strittig ist vor allem eine Justizreform, mit der die islamisch-konservative Regierung ihre Gegner bei den Gerichten entmachten könnte.

Manchmal wird die Ja-Kampagne der türkischen Regierung vor dem am Sonntag stattfindenden Referendum zur Änderung der Verfassung selbst Nazli Ilicak zu viel: Man sollte sich nicht wundern, wenn sie in Istanbul an ein paar Stellen Plakate für ein „Nein“ aufhängen – wegen der Ausgewogenheit, entfährt es der Kolumnistin des regierungsnahen Massenblattes „Sabah“. „Überall, in allen Straßen, in allen Gassen Ja!, wenn Du zum Fastenbrechen kommst, Ja!“

Dabei ist Ilicak über jeden Verdacht der Sympathie für das Militär oder für andere Gegner der Regierung erhaben. In den 1990er-Jahren saß sie für die streng islamische Wohlfahrtspartei im Parlament und war eine mutige Kritikerin des Militärs. Damals hob das Verfassungsgericht ihr Abgeordnetenmandat auf und verhängte ein Politikverbot über sie.

Ilicak will mit Ja stimmen, zugleich kritisiert sie jedoch den Druck, den die Regierung auf Organisationen und Einzelpersonen ausübt, damit sie sich öffentlich für die Annahme der Verfassungsreform einsetzen, die in einigen Punkten heftig umstritten ist. Der Druck ist tatsächlich enorm. Bekannt wurde die Äußerung von Premier Recep Tayyip Erdoğan, dass aus dem Weg geräumt werde, wer wie der Unternehmerverband Tüsiad keine Wahlempfehlung abgebe. Was immer damit gemeint ist, es klingt wie eine Drohung.

Viel Getöse, wenig Wirkung

Grob gesprochen, will die eine Seite mit ihrem Ja die antidemokratische Macht alter Eliten brechen, die sich nicht zuletzt in der Justiz manifestiert. Derweil fürchtet die andere Seite, dass auf leisen Sohlen eine neue Diktatur kommt, wenn Erdoğan und seine Partei zu mächtig werden.

Sieht man sich das ganze Reformpaket genauer an, so fällt am stärksten auf: Man kann gar nicht so leicht sagen, worüber eigentlich abgestimmt wird. Über Istanbuls Straßen hängen Transparente mit der Aufschrift: „Ja zur positiven Diskriminierung für Frauen.“ Gemeint ist ein Zusatz zum Gleichheitsgrundsatz der Verfassung. Pläne der Regierung etwa zur Einführung von Frauenquoten sind gleichwohl nicht bekannt.

Doch warum soll jemand, der stärkere Frauenförderung will, zugleich schwer durchschaubaren Änderungen in der Zusammensetzung juristischer Gremien zustimmen? Genau das ist der Fall, denn über die 26 Verfassungsänderungen wird im Paket abgestimmt.

Vieles klingt gut, wird aber nichts bewirken. So kommt etwa folgender Satz in die Verfassung: „Der Staat ergreift Vorkehrungen, um Kinder vor jeder Art Missbrauch und Gewalt zu schützen.“ Muss und kann die Regierung dies nicht auch ohne ausdrücklichen Verfassungsauftrag tun? Symbolisch ist auch die auf Drängen der Opposition aufgenommene Abschaffung von Paragrafen, mit denen sich die Putschisten des Jahres 1980 selbst Immunität gewährten. Passieren wird wohl kaum etwas, denn die Verjährungsfristen wurden nicht geändert.

Die Opposition kritisiert vor allem die Vergrößerung der Zahl der Verfassungsrichter von elf auf 17 und der Mitglieder eines weiteren wichtigen juristischen Gremiums von fünf auf 22. Damit könne die Regierung mit einem Schlag viele wichtige Posten besetzen.

Alter Klüngel, neue Klüngel

Diese hält entgegen, dass nun die Kandidaten für hohe Richterposten aus einem breiteren Spektrum kommen. Erdoğan sieht darin die Zerschlagung der alten „Oligarchie“. Es ist nicht zu leugnen, dass es in den oberen Rängen viele Richter gibt, die ihre Aufgabe weniger in der Auslegung und Umsetzung der Gesetze als in der Verteidigung kemalistischer Auffassungen sehen. Andererseits besteht die Gefahr, dass an die Stelle des alten Klüngels ein neuer tritt. Denn über die Besetzung der Posten entscheiden Präsident respektive Parlament, und beide sind in der Hand von Erdoğans AKP.

Eine Reihe von Änderungen bringt die Türkei sicher voran. Dazu gehört vor allem die Einschränkung der Zuständigkeit der Militärgerichte. Und auch hohe Offiziere können künftig vor zivile Gerichte gestellt werden.

Die Sachthemen sind jedoch in den Hintergrund gerückt. Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroğlu hat sich entschlossen, die Abstimmung in ein Misstrauensvotum gegen die Regierung zu verwandeln. In der Hitze des Wahlkampfs warnt er bei Großveranstaltungen vor einem „Ver-Recepen“ der Türkei, eine dumpfe Anspielung auf den Namen des Premiers. Das Regierungslager hat Kiliçdaroğlu im Gegenzug dafür attackiert, dass er ein teures Hemd aus Italien trage. Seither trägt er nur noch Hemden mittlerer Preisklasse – von einem türkischen Hersteller.

Börse setzt auf Ja

Abseits des Wahlkampfgewühls hat Kiliçdaroğlu auch bessere Momente: Der 61-jährige pensionierte Beamte, der erst vor Kurzem Politiker wurde, setzt nicht wie sein Vorgänger Deniz Baykal auf totale Blockade, sondern ist zu Kompromissen bereit und überholt Erdoğan gelegentlich mit eigenen Vorschlägen zur Demokratisierung der Türkei.

Wie das Referendum ausgeht, ist offen. Die Meinungsumfragen ergeben kein klares Bild. Die Börse setzt mit einem Höhenflug jedenfalls auf ein Ja, und Börsianer überlegen sich so etwas gut, denn im Zweifelsfall verlieren sie bares Geld. Der Eindruck, die Regierung liege weit vorn, mag aber auch damit zusammenhängen, dass so viele frohe Gesichter von unzähligen Plakaten ein „Ja!“ verkünden, dass selbst Nazli Ilicak ein paar „Nein-Plakate“ kleben möchte.

Bei einem Referendum stimmen die Türken am Sonntag über ein Paket von Verfassungsänderungen ab. Umstritten ist vor allem eine Vergrößerung des Verfassungsgerichts, was der Regierung von Premier Erdoğan die Möglichkeit gibt, die neuen Posten mit Sympathisanten zu besetzen.

Die Putschgeneräle von 1980 verlieren ihre Immunität, wenn die Reform angenommen wird. Die Abstimmung findet übrigens auf den Tag genau 30Jahre nach dem Putsch statt. Beschränkt wird bei einem „Ja“ künftig auch die Macht der Militärjustiz, die nur mehr im Kriegsfall Zivilisten verurteilen kann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2010)

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