„Die Dominanz der Europäer ist absurd“

INTERVIEW. Kishore Mahbubani, führender Denker aus Singapur, prophezeit das Ende der westlichen Vorherrschaft in der Welt und den Aufstieg Asiens – die Asiaten aber wollten den Westen nicht dominieren, sondern kopieren.

„Die Presse“: Herr Mahbubani, der rasante Aufstieg Asiens ist vielen im Westen unheimlich. Was halten Sie diesen Menschen entgegen?

Kishore Mahbubani: Ich hoffe, dass die Europäer sich darüber freuen, dass es zumindest einer Region auf dieser Welt gut geht. Was die jüngste Weltwirtschaftskrise gezeigt hat, ist die Tatsache, dass sich das politische und ökonomische Gewicht nach Asien verschiebt. Die Finanzkrise hat uns zudem die Inkompetenz des Westens und gleichzeitig die Kompetenz Asiens vor Augen geführt. Amerikaner und Europäer haben nicht verstanden, dass ein neues Kapitel der Weltgeschichte aufgeschlagen wurde.

Was meinen Sie konkret?

Mahbubani: Ich spreche vom Ende der westlichen Dominanz, nicht aber vom Ende des Westens. Asien kehrt auf die Weltbühne zurück, die USA und Europa müssen ihre Volkswirtschaften den neuen Gegebenheiten anpassen. Dabei müssen gerade die Europäer aber einige grundlegende Dinge beachten: Riesige Budgetdefizite sind nicht hilfreich, über die Verhältnisse zu leben ist nicht hilfreich, zu hohe Gehälter sind schädlich, und der eigenen Bevölkerung zu erlauben, mit 50 Jahren in Pension zu gehen, ist absurd.

Eines der Dinge, das heute gerade den USA Angst macht, ist, dass China heute das Land mit den größten Devisenreserven ist. Die bange Frage lautet: Was haben die vor?

Mahbubani: China hat heute die Kapazität, im Ausland zu investieren. Europa sollte diese Investitionen begrüßen, solange die Chinesen ihr Kapital in verantwortungsvoller Weise einsetzen.

Aber anstatt die Gelder im Westen anzulegen, könnte China doch die Mittel im eigenen Land investieren. Es gibt zu wenig gute Spitäler, zu wenig gute Schulen, die Löhne sind zu niedrig. Da gäbe es viel zu tun.

Mahbubani: Ich glaube nicht, dass China all dieses Geld im eigenen Land investieren könnte. Wenn eine Wirtschaft dieser Größe über einen längeren Zeitraum mit rund neun Prozent wächst, ist die Gefahr einer Überhitzung groß. Da ist es nicht so einfach, das Geld im eigenen Land sinnvoll zu investieren. Die gute Nachricht ist: Wenn man sich die Verbesserungen in der Lebensqualität in China ansieht, dann ist die Entwicklung durchaus bemerkenswert. In China erleben wir gerade das größte Armutsbekämpfungsprogramm der Geschichte. Nicht alles ist perfekt, aber was bisher erreicht wurde, ist wirklich bemerkenswert.

China wird vom Westen zunehmend für seine Außenpolitik, etwa für seine Politik in Afrika, kritisiert.

Mahbubani: Zuerst einmal: Es war die westliche Zivilisation, die Afrika zerstört hatte, die westliche Zivilisation, die die Afrikaner demoralisiert hatte. Und es war auch die westliche Zivilisation, die den Afrikanern jegliches Selbstvertrauen geraubt hatte. Ich bin etwas erstaunt darüber, wie westliche Vertreter sich anmaßen können, im Namen Afrikas zu sprechen – und das ganz ohne Scham. Niemand kommt auf den Gedanken: „Das waren ja eigentlich wir, die Afrika zerstört haben.“ Können Sie sich überhaupt das Gefühl der Befreiung vorstellen, das die Afrikaner empfinden, da sie nun „Nein“ zum Westen sagen können, weil es Alternativen gibt?

Sie sprechen in Ihrem Buch „Die Rückkehr Asiens“ davon, dass der Westen den asiatischen Ländern Platz machen muss. Wo denn?

Mahbubani: Der Westen hat die Welt 200Jahre lang dominiert. Es ist Zeit, diese Vorherrschaft aufzugeben: Die Dominanz der Europäer im Internationalen Währungsfonds ist absurd. Die Bevölkerung Europas macht vielleicht sieben Prozent aus. Im Jahr 1900 war Europas Anteil an der Weltbevölkerung noch 20Prozent, im Jahr 2000 neun Prozent, bis 2100 wird dieser Anteil auf vier Prozent sinken. Sieben oder acht Prozent der Weltbevölkerung kontrollieren 33Prozent der Stimmrechte der Weltbank. Belgien, die Niederlande und Luxemburg haben mehr Stimmrechte im IWF als China. Das ist doch völlig absurd. Wir haben eine Menge globaler Probleme. Wir brauchen einen globalen Dialog, der nicht von einer Seite dominiert wird. Die westliche Dominanz der globalen Institutionen ist eines der größten Hindernisse bei der Transformation der globalen Weltordnung.

Der „Economist“ hat Ihr Buch als antiwestliche Polemik beschrieben.

Mahbubani: Das ist es nicht. Der Grund für den jetzigen Erfolg Asiens ist es, dass die Asiaten die Erfolgsmodelle des Westens anwenden. Asien will den Westen nicht dominieren, sondern kopieren. Asien will Wohlstand, Stabilität und Frieden.

Der Aufstieg Asiens ist mit vielen Fragezeichen verbunden, überall lauern Fallen.

Mahbubani: Das stimmt. Die Geschichte lehrt uns, dass große Veränderungen im geopolitischen Machtgefüge meistens mit großen Spannungen einhergehen. Eine große Ausnahme war, als die USA das britische Empire als Führungsmacht abgelöst haben. Auch im Falle des Aufstiegs Chinas ist es überraschend, dass er bisher mit relativ wenigen Spannungen einhergeht. Das liegt meiner Ansicht nach an der hohen geopolitischen Kompetenz der chinesischen Diplomatie und Politik.

Ist aber nicht auch Redefreiheit unabdingbar für die Weiterentwicklung einer Gesellschaft?

Mahbubani: Der indische Politikwissenschaftler Pratap Bhanu Mehta sagte einst: „Indien hat ein offenes politisches System, aber ein geschlossenes Denken, China hat ein geschlossenes politisches System, aber ist im Denken sehr offen.“ Einer der größten Fehler, den der Westen bei der Betrachtung Chinas macht, ist: Nur weil man dort nicht denselben Grad an Redefreiheit genießt, heißt das nicht, dass nicht hart nachgedacht wird. Dort wird sogar sehr hart nachgedacht, vielleicht härter als in Europa oder in den USA.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Studie: Schweiz wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft
International

Schweiz bleibt wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft

Wie schon im Vorjahr belegt die Schweiz im Weltwettbewerbs-Bericht des Weltwirtschaftsforums den ersten Platz. Danach folgen Schweden, Singapur und die USA. Österreich rutscht um einen Platz auf die 18

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.