"Koma" im Kino: Der eigene Vater im Gewaltvideo

Koma Kino eigene Vater
Koma Kino eigene Vater(c) Julia Stix
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Regisseur Ludwig Wüst über seinen ersten Langfilm "Koma", Snuff-Videos, unbedingtes Vertrauen - und die korrekte Darstellung von Tischlerhandwerk im Kino. Ein "Presse"-Interview.

„Die Presse: Wie kam es zu „Koma“? Der Film entstand ja als unabhängige Produktion.

Ludwig Wüst: Ich habe einen jungen Burschen kennengelernt, der mir ein Snuff-Video zeigen wollte. Das funktionierte dann zwar nicht, aber ich war völlig baff: Der war 14 Jahre alt! Ich habe dann herausgefunden, dass es das nicht nur in Wien gibt, sondern eine eigene Snuff-Community existiert, die sich diese Gewaltvideos im Dutzend runterlädt – und je ärger, desto besser. Der spontane Gedanke in dem Kontext war: Wenn er den eigenen Vater in so einem Gewaltvideo sieht, was würde der Bub denken? Die ersten Skizzen zum Film entstanden schon im März 2006: Ich schreib ja keine normalen Drehbücher, sondern Unmengen von Texten für die Schauspieler. Aber erst haben alle abgewinkt, die Burgtheaterkollegen. Claudia Martini hab ich zwei Jahre umworben: Ich wusste, dass sie diese Frau spielen kann und muss. Einmal gab es eine Fassung, in der die jetzige Hauptfigur gar nicht vorkommt – eine Notlösung: Da hätte sich der Protagonist wegen seiner Tat umgebracht, der Film aus Interviews mit anderen Charakteren rundherum gebaut. Aber schließlich fand ich doch meinen Hauptdarsteller in Nenad Smigoc, den ich seit zehn Jahren kenne: Wir haben viel Theater gemeinsam gemacht, so hatte er die Hauptrolle in meiner „Traumnovelle“-Inszenierung im Hotel Orient.

Die Schwierigkeiten merkt man dem Film nicht an, der ist präzis bis in die symmetrische Konstruktion – Spiegel am Anfang und Ende.

Wüst: Ja, das war auch ganz genau geplant. Aber beim Filmemachen ist es schon so, wie der portugiesische Regisseur Pedro Costa sagt: Die guten Bilder kommen von selbst, man muss nur die Geduld haben, bis sie da sind. Man kann das nicht planen, nur auf eine Weise evozieren: Indem man am richtigen Ort die Umstände so baut, dass sie stimmen – dann passieren wirklich die großen Momente. Dafür muss man sich Zeit nehmen, selbst wenn wenig Zeit ist. „Koma“ haben wir ganz schnell im Mai 2008 gefilmt, es kostete ja nicht wenig, auch wenn ich das meiste in Raten zahlen konnte: 25 Leute für zwei Wochen durchfüttern, Scheinwerfer, Transporter, Equipment, Postproduktion. Eine Woche probten wir jede Szene mit der kleinen Videokamera, in der zweiten Woche drehten wir das Ganze. Den letzten Akt – von der Rollstuhlszene im Pflegeheim zum Ende im Park – schafften wir in einem Tag, da waren wir schon perfekt aufeinander abgestimmt. Ich konnte den Darstellern absolut vertrauen, alles stimmte beim ersten Take.

Auch die Bildkompositionen sind sehr genau: Da geht es oft um das, was man nicht sieht.

Wüst: Ich bin ein Bildermensch, komme eigentlich von der Malerei, das war meine erste Erfahrung. Als Erstklässler wurde ich von Religion und Sport befreit, um malen zu können. Mit sechs Jahren beherrschte ich das Zeichnen bereits perspektivisch perfekt, mit zwölf fing ich an, Canaletto-Veduten zu kopieren und Bilder von Turner, die Münchner Schule, Courbet, Barbizon... Aber mit 18 habe ich aufgehört zu malen, dann wurde ich Tischler – eigentlich wollte ich Klavierbauer werden, aber es kam eben anders. Der handwerkliche Aspekt ist mir daher bei den Bildern ganz wichtig: wie die Szene in „Koma“, als das Seil geknüpft wird. Das musste für mich als Handwerker authentisch sein. Ich liebe das Kino der belgischen Dardenne-Brüder, auch ihren Film „Der Sohn“ – aber was sie darin über das Tischlerhandwerk erzählen, ist eine Katastrophe! Entweder ist das ganz schlecht recherchiert oder die Belgier sind einfach grauenhafte Handwerker! Kein Tischler nimmt doch die Werkzeugkiste mit nach Hause! Wozu? Man braucht sie doch in der Werkstatt, nur zur Montage packt man sie ein. Wenn die Kiste mit der Zeit rau wird und man gibt sie ins Auto, dann reißen die Spreißel den Rücksitz auf! Es gäbe da noch 20 weitere Punkte, egal, wie sehr ich die Arbeit der Dardennes liebe und was für ein toller Schauspieler Olivier Gourmet ist: Vom Tischlerstandpunkt ist der Film desaströs! Dabei kommen die Dardennes vom Dokumentarfilm, es ist mir ein Rätsel. Doch zurück zur Seilszene. Die Wäscheleine, das tut weh, wir haben es getestet: sehr unangenehm! Für diese Drei-Minuten-Szene drehten wir acht Stunden ohne Pause. Ich sagte: Wir probieren's aus. Die leicht rostige Schere, wie schneidet die? Wie muss man das Seil halten, das kaum durchgeht? Das wollte ich ohne Schnitt. Wie bei Bressons „Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen“: was da mit der Matratze passiert, wie die Bewegung komplett in einem Atem abläuft.

Vieles entsteht also erst vor Ort?

Wüst: Ich bin gern auf Bildersuche vor Ort mit Kameramann und Darstellern: schauen, was möglich ist. Die Bilder passieren oft intuitiv, beim Schreiben, aber meistens erst am Drehort. Im Haus, in dem „Koma“ gedreht wurde, haben wir die Kernszenen alle gefunden, weil das Haus so beschaffen war, wie ich's mir vorgestellt hatte. Der Keller, fast wie eine Klosterzelle, man sieht es am Filmplakat: Diese Tür wie ein Fallbeil! Wenn so etwas da ist, weiß ich: Wir sind richtig. Wichtig für meine Inspiration sind die Menschen, die mitspielen, natürlich der Kameramann – das ist ja schon eine halbe Ehe, seit sechs Jahren – und der Ort. Wir probieren herum, da passiert wahnsinnig viel, aber es wird trotzdem sehr genau: Wie eine Türklinke drücken? Wie sich umdrehen? Auch die Beschaffenheit der Dinge: die Kellertür, das hässliche Plastik. Oder die Torte mit Wespen drauf: Verwesung – komplett.

Wie stark ändert sich der Stoff bei der Arbeit?

Wüst: Ich schreib zwar wahnsinnig viel, aber letztlich ist der Text nur die Provokation, um in allen Beteiligten etwas zu mobilisieren: sie einzuschwören, auch sprachlich. Man gibt eigentlich nur Themen vor. Wenn ich mich für jemand entschieden habe, beeinflusst das zu 50, wenn nicht zu 100 Prozent die Arbeit. Für die Hauptfigur hatte ich irre viel Text – und Nenad sagt: „Ich möchte nicht sprechen.“ Augenblicklich war mir klar: Er hat recht. Auch Claudia Martini, als wir uns endlich trafen, nachdem sie lange ablehnte, weil es zu grauslich sei – was eh stimmt! Ich überraschte sie gleich mit der nächsten Forderung, schrieb auf einen Zettel: „Kannst du dir vorstellen, dass die beiden miteinander schlafen?“ Und schob den Zettel über den Tisch im Café Eiles. Sie las es und sagte nur: „Das hab ich mir auch schon gedacht.“ Aber es braucht richtig Zeit, um von den Darstellern so viel zu erfahren, dass sie so viel preisgeben. Dadurch entsteht großes gegenseitiges Vertrauen, das Kämmerchen aufzumachen, um aus der vollen Seelenlandschaft zu schöpfen. Dann kann man sagen: Die Szene drehen wir ohne Schnitt. Bei der Beischlafszene wusste ich gleich: Das ist jetzt ein Wahnsinn. Beim Sichten sagte ich dem Cutter: Spul einfach weiter, ich schneid es eh nicht, und ich kann es noch nicht sehen. Bei der Weltpremiere am Filmfest Moskau, die Wirkung auf der Riesenleinwand war dann unglaublich. Der Abspann kommt, einer schreit: „Bravo!“. Und dann Applaus.

Bisher lief der Film ja nur auf Festivals. Gab es da nicht auch negative Reaktionen? Das Thema ist ja doch sehr kontrovers.

Wüst: Meistens war die Aufnahme positiv, oft mit Verspätung – direkt nach dem Film liefen die Leute raus, es war zu stark. Aber in Reykjavik wurde ich ganz wüst beschimpft, auch in Saarbrücken hat sich eine Frau lauthals aufgeregt: Wie könne ich so einen Film machen? Und das große Branchenblatt „Variety“ schrieb, der Film gehöre selber auf eine Snuff-Homepage. Aber auch, wenn die den Film zerfetzen, erregt das Aufsehen.

Der Regisseur UND sein Film

Ludwig Wüst kommt aus dem bayerischen Oberpfalz, lebt und arbeitet seit 1987 in Wien. Seit 1990 ist er als Regisseur, Schauspieler und Autor tätig, inszenierte 40 Produktionen für Theater und Oper in Wien, Leipzig und Frankfurt. 1999 begann Wüst mit dem Filmemachen und realisierte die mittellangen Filme „Ägyptische Finsternis“ (2002) nach Ingeborg Bachmann, „Zwei Frauen“ (2006) mit Sabine Haupt und „Bon Voyage“ (2007). „Koma“ ist Wüsts erster abendfüllender Spielfilm, er wurde 2008 im Wettbewerb des Filmfestivals Moskau uraufgeführt.

„Koma“ handelt von einem Taxifahrer, der mit seiner Familie nahe Wien lebt. Bei der Feier zu seinem 50. Geburtstag bleibt der Jubilar fern – dafür taucht ein Snuff-Video auf: Im Gewalttäter darin erkennt der Sohn seinen Vater. Dieser verlässt daraufhin sein Heim, um mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen: Seine Suche nach Erlösung endet in einer verstörenden Utopie. Die Balance von Präzision und Provokation macht „Koma“ zu einem der herausragendsten heimischen Langfilmdebüts der letzten Jahre. Eben ist es im Filmhaus am Spittelberg angelaufen, parallel dazu startet es als erster österreichischer Film online weltweit als Video-on-demand über die renommierte cinephile Netzfilmplattform mubi.com. [Julia Stix]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2010)

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