Die Mistel steht in vielen Kulturen für Kraft. Aber woher sie ihre eigene nimmt, ist ganz unklar. Und wie kam sie nur in die Baumkronen?
Wenn das eine Weihnachtsgrün im Haus längst abgenadelt und entsorgt ist, hängt das andere immer noch so frisch – na ja, relativ – an manchen Türstöcken, dass es zum Küssen darunter einlädt: In vielen Kulturen galt das auch im Winter treue Grün als Symbol für Kraft, generell für die des Körpers – deshalb wurde es von Druiden geerntet, „mit goldenen Sicheln“, das ist keine Erfindung von Uderzo/Goscinny, sondern steht bei Plinius dem Älteren (Naturalis historia XXII, S. 45) –, im Besonderen für die des Mannes, dazu trug der klebrige Schleim der Früchte bei. Und in einer Denkfigur, die an die der Reaktionsbildung in der Psychoanalyse erinnert, wurde die Mistel in der nordischen Mythologie von der Verkörperung von Hass und Tod zu der von Liebe und Leben: Freyas Sohn Baldur wurde durch eine Tücke Lokis mit einem Pfeil aus Mistelholz getötet, weil Freya ihn zwar vor allem Erdenklichen gefeit, aber die Mistel vergessen hatte. Zum Auslöschen auch ihrer eigenen Schuld deutete sie die Mordwaffe zum Segenspender um.
Wie auch immer: Unter der geschnittenen Mistel kann geherzt werden, man hat sie hoch genug hinauf gehängt. Härter ist die Frage, wie sie in der Natur hinaufgekommen ist in die Höhen, die der Baumkronen. Denn begonnen hat sie unten, als Wurzelparasit, wie viele der etwa 5000 Pflanzen, die sich von anderen ernähren (lassen). Manche tun es zur Gänze und können auf Ernten vernichten, andere sind Hemiparasiten – Halbschmarotzer –, sie sorgen teilweise für sich selbst, zu ihnen gehören die Misteln – darunter die uns vertraute Viscum album –, sie betreiben Fotosynthese, daher ihr Grün.