EU-Kommissar Johannes Hahn, Europaministerin Karoline Edtstadler, Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer, Wissenschaftslandesrätin Barbara Eibinger-Miedl und Club Alpbach Steiermark-Vorsitzender Herwig Hösele (v. l.).
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Europa muss sein enormes Potenzial erkennen

Pfingstdialog. Damit die Steiermark, Österreich und Europa zukunftsfit bleiben, braucht es Rückgrat, an den richtigen Stellschrauben zu drehen, um die Rahmenbedingungen auf wettbewerbsfähig zu stellen.

Seit 2005 finden alle zwei Jahre auf Schloss Seggau in der Südsteiermark die Pfingstdialoge „Geist & Gegenwart“ statt – eine Veranstaltungsreihe des Club Alpbach Steiermark, die in Zusammenarbeit mit dem Land Steiermark gestaltet wird. Hier werden aktuelle europäische Themen in Verbindung mit der Steiermark und Österreich von namhaften Experten diskutiert. In der neunten Auflage der Pfingstdialoge bildeten 37 Referenten die Grundlage für spannende Gespräche und Diskussionen. „Es ist wichtig, über die großen Fragen der Zeit nachzudenken“, mit diesen Worten eröffnete Wissenschaftslandesrätin Barbara Eibinger-Miedl den Pfingstdialog 2021.

Auf null gestellt

Europa befindet sich mitten in der digitalen Transformation. Gleichzeitig zwingt uns der Klimawandel zu einer ökologischen Umorientierung. Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass die bestehenden Herausforderungen noch eine Spur anwuchsen. Mit Bewältigung der Coronakrise prognostizieren viele Experten eine neue Zeitrechnung. „Eine geistvolle neue Normalität, getragen u. a. von Dankbarkeit, Demut, Wertschätzung, Lebensfreude und Zuversicht“, wünschte sich Wilhelm Krautwaschl, Diözesanbischof von Graz-Seckau.

Bischof Wilhelm Krautwaschl ist Hausherr auf Schloss Seggau.
Bischof Wilhelm Krautwaschl ist Hausherr auf Schloss Seggau. (c) Foto Fischer

„Seit der ersten Veranstaltung im Jahr 2005 haben sich die ‚Geist & Gegenwart‘-Pfingstdialoge zu einem österreichweiten Aushängeschild entwickelt und ich freue mich, dass wir wieder hier auf Schloss Seggau zusammenkommen können, um über die Zukunft Europas zu diskutieren“, unterstrich Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer die Notwendigkeit für den heurigen Dialog. Er rief dazu auf, die Bedeutung Europas bei der Bewältigung der anstehenden Herausforderungen nicht zu unterschätzen. „Oft sind uns die Nationalstaaten näher als das Dach der Europäischen Union. Doch ohne Europa gäbe es weder den Europäischen Aufbauplan zur Bewältigung der Folgen der Coronakrise noch einen Green Deal für mehr Klimaschutz. Letztendlich besteht dieses Europa aus uns allen, wir alle sind ein Teil davon.“

Unter dem Motto „Reset Europe“ versuchte der Pfingstdialog Antworten zu geben, welche Folgen die neue Transformation auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Kunst, Kultur, Wissenschaft und Forschung hat. Ein Begriff, den viele Diskutanten unterschiedlich interpretierten. Rahim Taghizadegan, Ökonom, sieht darin etwa die Aufgabe, den Impuls zu finden, etwas mit neuem Elan zu verändern. Statt „Reset“ sprach Katja Gentinetta, Philosophin und Publizistin, hingegen lieber von einem „Update“. Aber noch viel wichtiger: „Europa braucht eine Vorstellung davon, welche Rolle es in der Welt einnehmen soll“, sagte die Schweizerin und empfahl eine stärkere Entwicklung in Richtung Föderalismus und dass sich in Europa verschiedenste Stimmen an einem Tisch versammeln, mit dem Effekt, dass die Entscheidungen der EU breiter akzeptiert werden. Auch eine EU-Verfassung wäre laut Gentinetta dringend notwendig.

Katja Gentinetta ist auch Vizepräsidentin des Forum Alpbach.
Katja Gentinetta ist auch Vizepräsidentin des Forum Alpbach. (c) Foto Fischer

Mehr Mut

Wichtige Gesprächsrunden der Pfingstdialoge 2021 bildeten die von „Presse“-Redakteurin Anna-Maria Wallner moderierte Diskussion „Forum Impulse für Europa“ und das von „Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak geleitete „Forum Generale: Die Zukunft Europas“. Das Resümee beider Talks: Für eine bessere Zukunft muss Europa neu gedacht werden. „Das vergangene Jahr hat uns die Stärken und Schwächen der EU vor Augen geführt“, sagte Karoline Edtstadler, Bundesministerin für EU und Verfassung. Positiv etwa die europaweiten Wirtschaftsförderungen und die Fortschritte bei der Impfstoffentwicklung. „Die Coronakrise hat gezeigt, dass Europa im Großen und Ganzen funktioniert, aber funktionieren allein ist zu wenig.“ Wichtig sei, aus den Fehlern zu lernen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. „Never waste a good crisis“, bediente die Bundesministerin ein altes Churchill-Zitat.

„Die Zukunft lässt sich nur meistern, wenn wir die Gegenwart richtig verstehen“, sagte Martin Selmayr, Vertreter der Europäischen Kommission in Österreich. Seiner Beobachtung nach fehle es den Europäern an Selbstbewusstsein. „Wir schielen immer auf China und die USA, bemerken aber nicht, dass uns der Rest der Welt beneidet, dass wir auf dem wohlhabendsten, sichersten und freiheitlichsten Kontinent leben.“ Europäer seien zudem Perfektionisten und übersehen dadurch viele kleine Erfolge.

Gemeinsam statt allein

„Europa hat nach wie vor eine hohe Lebensqualität, aber es mangelt an der Dynamik“, sagte Monika Köppl-Turyna, Direktorin von EcoAustria. Europa wachse zu langsam. Neuesten Prognosen zufolge erwartet China im nächsten Jahr 23 Prozent Wachstum, die USA rund zehn Prozent, Europa hingegen gerade einmal ein Prozent. „Eine Bremse ist, dass es innerhalb der EU-Nationen große Unterschiede gibt“, so Köppl-Turyna. „Vor allem im schnell wachsenden Technologiebereich befinden sich die führenden Unternehmen außerhalb Europas.“ Als fatal empfindet sie, wenn sich die Nationen innerhalb Europas in Streitereien verwickeln. „Um gegen USA und China wettbewerbsfähig zu sein, müssen wir als eine Einheit agieren und darauf achten, innovative Firmen in Europa zu halten.“

Wissenschaftslandesrätin Barbara Eibinger-Miedl betonte, dass Europa, aber auch Österreich und speziell die Steiermark durchaus stolz auf die Leistungen sein dürfen. „Oft verkaufen wir uns unter Wert.“ Die Pandemie ermögliche die Neuvermessung Europas. „Wir können nun an Stellschrauben drehen, die vorher nicht möglich waren.“

Besonders vorangetrieben werden müssten die Themen Digitalisierung und Green Deal. Bei der Digitalisierung habe Europa starken Nachholbedarf, insbesonders bei der Infrastruktur. Beim Green Deal hingegen stehe Europa in der Pole-Position. „Vor allem die Steiermark ist hier vorbildlich. Seit Langem besteht ein Green Tech Cluster mit rund 200 Unternehmen, die teilweise Weltmarktführer sind und zeigen, dass sich Klimaschutz und wirtschaftlicher Erfolg vereinen lassen“, meinte Eibinger-Miedl. Appelle, denen sich Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer anschließen konnte. „Europa hat vieles richtig gemacht, vor allem im Innovations- und Forschungsbereich. Die meisten Impfstoffe, die breit verfügbar sind, entstanden durch das Zutun europäischer Teams.“ Diese Innovationskraft Europas gelte es intensiver zu fördern. Mahrer sieht in keinem Bereich den Wettlauf mit China und den USA verloren. Das eigentliche europäische Problem liege in der Strukturiertheit und Verfasstheit der langsamen Entscheidungsfindung in Europa. „Kein anderer Kontinent ist in der Bündelung so stark und innovativ wie Europa, aber durch nationalstaatliche Interessen wird Potenzial verspielt“, so Mahrer.

Eine der starken europäischen Stimmen der Gegenwart: Ivan Krastev.
Eine der starken europäischen Stimmen der Gegenwart: Ivan Krastev. (c) Foto Fischer

Chancen nutzen

Beide Tage der Pfingstdialoge konnten starke Keynotes vorweisen. Ivan Krastev, einer der führenden Politologen Europas vom Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, kritisierte vor allem, dass die EU Europa nicht gleich behandle. „Der Westen hat seine selbstkritische Perspektive verloren“, sagte der bulgarische Politikwissenschaftler. EU-Kommissar Johannes Hahn versuchte an vier Beispielen aufzuzeigen, welchen Adaptierungs- und Veränderungsprozessen die EU unterliegt, gleichzeitig aber sein allgemeingültiges Fundament nicht zerstören dürfe.

1. Es braucht das Verständnis, dass man in einer größeren gemeinsamen Familie besser aufgestellt ist, weil mehr Schutz gegeben ist. Gleichzeitig darf dieser Zugang nicht dazu führen, die EU als Melkkuh zu betrachten.

2. Europa leidet unter mangelndem Selbstbewusstsein, obwohl es keinen anderen Kontinent gibt, der mit China und den USA auf Augenhöhe ist. Hahns Appell meinte dazu: „Wir müssen bereit sein, unsere Macht dort einzusetzen, wo sie notwendig ist. Dazu braucht es keine Veränderungen im Regelwerk, sondern nur im Bewusstsein.“

3. Europa hat eine friedensstiftende Funktion. Daher sei es wichtig, Nicht-EU-Staaten in Europa an die EU heranzuführen. „Denn die Mitgliedschaft in der EU kann regionale Konflikte auflösen.“

4. Als Reaktion auf die Pandemie entstehen Resilienzfonds.

„Es geht nicht darum, dass wir wieder dort anknüpfen, wo wir vor der Pandemie aufgehört haben, sondern die Situation zu nutzen, um unsere Gesellschaften widerstandsfähiger zu machen.“

Fazit

Europa gehört nach wie vor zu den Spitzenreitern. Die Voraussetzungen zur Wettbewerbsfähigkeit sind gegeben. Gelöst werden muss die Frage, an welchen Schräubchen es zu drehen gilt, um durchstarten zu können. Spirituell ausgedrückt: Man muss den europäischen Geist finden und daran glauben. „Europa ist das, wofür es sich starkmacht“, brachte es Hermann Glettler, Diözesanbischof von Innsbruck, auf den Punkt. „Identitätsbildung geschieht nicht durch einen rein theoretischen Wertediskurs, sondern im geistvollen Tun.“ Die Vision Europas wurde durch zahlreiche Krisen zwar teilweise in Frage gestellt, aber Krisen bieten auch stets die Chance, positive Entwicklungen voranzutreiben. „Wir müssen den Blick mehr auf das Gelingende richten.“

Zum Nachlesen

Unter dem Titel „Reset Europe. Impuls für die Zukunft Europas“ ist im Wieser Verlag eine Begleitpublikation mit über 40 Beiträgen u. a. von Ivan Krastev, Barbara Frischmuth, Andreas Treichl, Katja Gentinetta, Daniel S. Hamilton und Hermann Glettler erschienen. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag: www.wieser-verlag.com

Information

ORF III sendet am 6. Juni um 9.15 Uhr eine Zusammenfassung der Veranstaltungen.

Mehr Info zum 9. Pfingstdialog 2021 auch online unter: www.pfingstdialog-steiermark.at

Mehr erfahren

Diskutierten über die Zukunftsfähigkeit der europäischen Wirtschaft: Moderator Wilfried Stadler, Know-Center-CEO Stefanie Lindstaedt (TU Graz), UnternehmerTUM-CEO Helmut Schönenberger (TU München), ThinkAustria-Leiterin Antonella Mei-Pochtler und IV-Präsident Georg Knill (v. l.).
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