Was muss ein guter Mensch?

Der gesunde Menschenverstand kippt leicht ins Irrationale. Wer nämlich Ambivalenzen nicht akzeptiert und Widersprüche nicht hin und wieder unerklärt stehen lassen kann, sucht verzweifelt nach einer alternativen Erzählung. Sie muss nur zu seiner Weltsicht passen.

Mein Vater hatte gesunden Menschenverstand – bei der Bewältigung des Alltags war dieser nicht immer ausgeprägt, bei der Beurteilung politischer Ereignisse jedoch meist klar und eindeutig. So lobte er zum Beispiel den 1974 erfolgten völkerrechtswidrigen Einmarsch der türkischen Armee in Zypern und die Teilung des Landes als klugen und weitsichtigen politischen Akt. Dadurch wäre das Land befriedet und der Konflikt beendet, meinte er. Was nicht zusammengehöre, solle am besten ein für alle Mal getrennt werden. Jede der beiden Bevölkerungsgruppen habe nun ihren Teil der Insel ganz für sich allein und brauche sich durch die jeweils andere nicht bedroht zu fühlen. Die quer durch das Land verlaufende Demarkationslinie schaffe Sicherheit. Ein Stacheldraht für den Frieden.

Einwände, dass Menschen vertrieben und wahrscheinlich für immer ihrer Heimat beraubt worden seien, dass Leid und Traumata über Generationen weitergegeben werden, ja, dass die Vertreibung oder Ermordung von Menschen, und sei es für ein vermeintlich höheres Ziel, schlichtweg unmoralisch und kein vertretbares Vorgehen sei, ließ er nicht gelten. Moral sei etwas für Schulaufsätze, meinte er. In der Realität des Lebens hingegen sei nur das moralisch, was für die Gesellschaft nützlich und in der Wirkung nachhaltig sei. Das Leid Einzelner sei bedauerlich, aber nicht immer zu vermeiden.

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