Gastkommentar

Nein, Homer darf nicht fallen!

Lueger-Denkmal
Lueger-DenkmalDie Presse/Clemens Fabry
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Was haben Homer und Lueger miteinander zu tun? Wie weit darf Politcal Correctness gehen und wo sind die Grenzen der Cancel Culture zu ziehen? Der Versuch einer Klärung.

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An US-Unis wird die Auflösung der Classics, also der griechischen und römischen Antike, gefordert, in Wien um die Erhaltung des Luegeŗ-Denkmals gestritten. In beiden Fällen wird das Argument des Rassismus vorgebracht, doch gilt es, diesen Pauschalvorwurf einer kritischeren Betrachtung zu unterziehen. Dies soll hier anhand des Barbaren- und Sklavendiskurses der Antike unternommen werden.

Wenn es um ethnische Diskriminierung und soziale Exklusion geht, wird oftmals Aristoteles‘ Sichtweise zitiert, Barbaren seien von Natur aus minderwertig und ausschließlich zur Knechtschaft bestimmt, sozusagen geborene Sklaven. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die multikulturelle Schicht einen integrativen Bestandteil einer legitimen Herrschaftsform darstellte, die auf weitgehender Zustimmung der Beherrschten beruhte.

Was nun Begriff des ‚Barbaren‘ betrifft, so fungierte dieser als ein „asymmetrischer Gegenbegriff“ (Reinhart Koselleck) zur Selbstbezeichnung der Griechen als ‚Hellenen‘. Die Asymmetrie bestand insofern, als die beiden Bezeichnungen einerseits zusammen genommen ein universelles Menschenbild konstituieren, andererseits in ihrer Unterscheidung verschiedene Kategorien im Sinne einer bestimmten Kulturzugehörigkeit darstellen. Demzufolge bestand die Abgrenzung von Hellenen zu Barbaren zunächst in der Unterscheidung zwischen Kultur und deren Abwesenheit, zwischen Gesetz und Anarchie, zwischen hoch entwickelter Sprache und dem Fehlen eben dieser (griech. barbaros heißt „Stotterer, Stammler, unverständlich Redender“). Paradoxerweise führte gerade die Asymmetrie des Begriffspaars Hellene/Barbar, all das, was die Barbaren von den Griechen unterschied, zu deren Anerkennung. Aristoteles wäre wohl gar nicht auf die Idee gekommen, dass eine Welt ohne Barbaren eine bessere wäre.

Für ihn war das Barbarentum zudem als ein aus der Natur (physis) abzuleitendes Phänomen, wobei er unter physis das Prinzip der Selbstverwirklichung verstand, die Manifestation des Daseinsgrundes von allem Lebendigem, die Entfaltung seiner Form im Sinne seines Zwecks. Dies galt für eine einfache Pflanze genauso wie für die athenische Polis oder eben für die physis der Barbaren.

Nach allem, was wir wissen, gab es im praktischen Umgang mit Barbaren/Sklaven keine systematische Exklusion von Einzelnen oder Gruppen aufgrund körperlicher oder ethnischer Merkmale. Auch das Römische Imperium gestattete nach der Eroberung des gesamten Mittelmeerraums und der hellenischen Stadtstaaten den Unterworfenen ein nicht geringes Maß an kultureller Selbstverwaltung, das nur bei offenem Widerstand durch militärische Unterdrückung außer Kraft gesetzt wurde. Ebenso wie dem griechischen war auch dem römischen Selbstverständnis eine asymmetrische Denkweise eigen, die daher auch in der Existenz fremder Kulturgemeinschaften innerhalb der Reichsgrenzen keinerlei Bedrohung für die eigene Kultur sah. Das änderte sich erst in der Spätantike mit der sich ausbreitenden Christianisierung und dem beginnenden Zerfall des Römischen Imperiums. Erst zu dieser Zeit fand angesichts der Einfälle germanischer und osteuropäischer Völker und einer zunehmend realistischer werdenden Aggression von außen eine verstärkte Hinwendung zur eigenen Kultur statt, in der versucht wurde, die römische Kultur als explizit überlegen darzustellen.

Es ist daher geboten, so umfassende und die Antike insgesamt prägende Phänomene wie den Barbarendiskurs und die Institution der Sklaverei nicht (nur) anhand moderner Auffassungen oder simpler Rückprojektionen zu beurteilen. Das soll nicht heißen, die Antike von Rassismus völlig freizusprechen. Um jedoch eine voreilige Legitimation eines rassistischen Denkens in der Antike zu vermeiden, müsste die Frage nach den Ursprüngen rassistischer Ansichten differenzierter gestellt werden: Nicht, ob es in der Antike „schon" Rassismus gab, ist relevant, sondern vielmehr, ob in dieser Epoche gewisse Phänomene auszumachen sind, die sich in der späteren Ausformung und Entwicklung des Rassismus niederschlugen.

Viele Namen ließen sich anführen

Wie weit darf Cancel Culture nun gehen? Sollen die Classics unter dem Banner der Politcal Correctness verbannt und Denkmäler der Vergangenheit gestürzt werden? Im Falle der Lueger-Statue gibt Dirk Rupnow, der in seinem Gastkommentar vom 5. 6 für die Entfernung plädiert, bereits selbst indirekt eine abschlägige Antwort, insofern er auf die Problematik bei Maria Theresia, Kaiser Leopold und Richard Wagner hinweist. Und was wäre mit Julius Tandler, der Eugenik befürwortete, oder etwa der Gedenktafel für Stalin? Viele andere Namen ließen sich hier noch anführen, ja selbst der Stephansdom ist voll von ambivalenter Geschichte. Wo wären dann die Grenzen bei den „Säuberungsakten“ zu setzen? Hier ist wohl die Frage zulässig, ob die radikale Entfernung problematischer Spuren aus der Vergangenheit tatsächlich die gewünschte Katharsis bringt oder nicht eher nur der moralischen Selbstbefriedigung dient.

Im Falle der Classics ist die Lage noch brisanter: Darf man sich vom Erbe der griechisch-römischen Antike loslösen, auf dem unsere europäische Identität beruht? Ist es legitim die Schriften des Aristoteles über Bord zu werfen? Etwa seine berühmte und wirkmächtige Metaphysik oder die Nikomachische Ethik mit ihrer Tugendlehre und zentralen, unwiderlegbaren Aussagen zum Glück und einem guten Leben? Oder hat der, im Übrigen von Thomas Jefferson hochgeachtete, Cicero jetzt ausgedient, nur weil er auch von Kolonialisten geschätzt wurde und in einer Gesellschaft lebte, in der es Sklaven gab? Ganz zu schweigen vom unschätzbaren kulturellen Verlust, den die Entfernung von Homer und den Dichtern brächte.

Nein, Homer darf nicht fallen, und auch das Lueger-Denkmal muss nicht unbedingt gestürzt werden. Es bedarf bloß eines gewissen Grades an Bildung, die einst mit dem – sokratischen – Anspruch auftrat, vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen, zu prüfen und gegebenenfalls zu widerlegen. Eine Gesellschaft, die in Ermangelung einer angemessenen reflexiven Distanz geradezu von einer Besessenheit ergriffen ist, die Geschichte im Namen der Politcal Correctness zu „säubern“, läuft allerdings Gefahr, zu verarmen und sich des eigenen Fundaments zu entledigen.

Michaela Masek (*1957) ist Lehrbeauftragte für Antike Philosophie an der Universität Wien und unterrichtet am Wiener Wasagymnasium Latein und Griechisch. 2012 ist die 2. Aufl. der „Geschichte der antiken Philosophie“ bei Facultas WUV erschienen.

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