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Der „Winterreise“ spontan ans Herz gegriffen

Joyce DiDonato
Joyce DiDonato(c) Musikverein
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Jubel für Joyce DiDonato und M. Emelyanychev nach ihrem sanft szenischen Schubert-Abend.

Die Ausbuchtung des Flügels gibt eine gemütliche Leseecke ab. Joyce DiDonato setzt sich an ein Tischchen, auf dem ein Tagebuch liegt. Sie greift danach – und wird vom ersten Akkord an hineingezogen in ein Menschenschicksal, immer stärker davon erfüllt. Sie blättert von Lied zu Lied weiter, drückt den Band fassungslos an die Brust, kann nicht mehr sitzen bleiben. Welch Tragödie, radikal subjektiv, ausweglos, verloren.

Wer ist es, der da spricht in der „Winterreise“? Der Autor Wilhelm Müller? Ein lyrisches Ich, referierend und in Klang und Timbre frei wählbar? Oder jedenfalls ein männlicher „Geselle“, auch durch die Stimmfarbe klar definiert? Wo sind Interpretation und Anverwandlung durch den hier und jetzt singenden Menschen Grenzen gezogen? In Schuberts hohen Originaltonarten? Die würden schon Baritone und Bässe ausschließen. Also ausgerechnet im natürlichen Geschlecht? Das führte auch Partien wie Cherubino und Octavian ad absurdum. Das Publikum des 21. Jahrhunderts hört doch schon anders zu: gelassener, wacher. Es mussten gar nicht erst Mezzo-Königinnen wie Christa Ludwig und Brigitte Fassbaender kommen, um zu zeigen, dass die höheren Wahrheiten dieser Musik von der Vortragskunst, nicht von der Stimmlage transportiert werden: Aus Soprangefilden hat sich einst, lange vor allen Gender Studies, schon Lotte Lehmann dem Werk angenähert, zuletzt (aufs Neue umstritten) Christine Schäfer.

Gottlob nicht (zu) opernhaft

Trotzdem, wenn DiDonato diese kleine szenische Brechung in ihre Deutung der „Winterreise“ einführt, will sie wohl immer noch dieser älteren Kritik den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie von Beginn an klarmacht, nicht von sich selbst zu singen. Und zugleich mag sie in akzeptabel geringer Dosis ihrer bekannten Leidenschaft fürs inszenierte Konzert frönen. Gottlob wird es dennoch nicht (zu) opernhaft – selbst wenn sie den finalen „Leiermann“ als letzte Steigerung gleichsam auswendig vorträgt.

Hier erlaubt sich auch Maxim Emelyanychev am Klavier die umstrittene Freiheit, bei der Bordun-Quint im Bass die nur in den ersten beiden Takten notierte, klagende Ziernote durch das ganze Lied zu ziehen. Statt Yannick Nézet-Séguin wie bei ihrer CD-Aufnahme stand ihr im Musikverein der junge Russe zur Seite, Chefdirigent des Originalklang-Ensembles „Il pomo d'oro“, mit dem sie zusammenarbeitet. Doch der profilierte Pianist und DiDonatos satter, doch wendiger Mezzosopran mit der noblen, auf langem Atem ruhenden Phrasierung wirkten feinfühlig aufeinander abgestimmt – in einer profilierten, mit historisch informierter Klangfantasie angereicherten Lesart.

Trotzdem, sprachlich völlig heimisch ist sie noch nicht geworden in der, wie es Georg Lukács später ausgedrückt hat, „transzendentalen Obdachlosigkeit“ der Moderne, die hier unversehens anbricht. Kleine Textirrtümer sind zwar nur menschlich – in der höchsten Interpretinnenklasse dürften sie aber so nicht mehr passieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2021)

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