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Europa hat am Balkan seine Vormachtstellung eingebüßt

Ivan Krestev zeichnete ein eher düsteres Bild des Westbalkans.
Ivan Krestev zeichnete ein eher düsteres Bild des Westbalkans.IWM/Klaus Ranger
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Impulsreferat. Die Mobilisierungs- und Transformationskraft des Versprechens einer EU-Mitgliedschaft ist laut dem bulgarischen Politologen Ivan Krastev sehr begrenzt.

„Die Pandemie hat Europa geteilt“, sagte Ivan Krastev, Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia, in seinem Impulsreferat. Umfragen zufolge hätten die Menschen im Osten und Westen diese ganz unterschiedlich erlebt: „Die Mehrheit der Menschen in den osteuropäischen Ländern beantwortet Fragen danach, ob sie schwer krank beziehungsweise im Krankenhaus waren, ob ein Familienmitglied oder ein enger Freund daran gestorben ist oder ob sie wirtschaftlich geschädigt wurden, mit Ja“, meinte der Wissenschaftler. In Ländern wie Österreich, Deutschland oder Dänemark hingegen würde die Mehrheit diese Fragen mit Nein beantworten.

„Wir sehen plötzlich nicht nur unterschiedliche Auswirkungen innerhalb der Gesellschaften, in denen bestimmte soziale Gruppen viel stärker betroffen sind als andere, sondern auch innerhalb Europas“, so Krastev.

Misstrauen gestiegen

Die subjektive Betroffenheit ist allerdings nur ein Aspekt, ein anderer sei der Generationenkonflikt. Menschen unter 30 Jahren würden sich als die größten Opfer und Verlierer der Krise fühlen. Die Covid-Krise habe innerhalb dieser Generation das Misstrauen gegenüber öffentlichen Institutionen verstärkt – besonders in Mittel- und Osteuropa. „Nur 33 Prozent glauben, dass die Regierungen Lockdowns und restriktive Maßnahmen verhängt haben, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

60 Prozent gehen davon aus, dass sie versucht haben, die Krise zu nutzen, um ihre Kontrolle über die Öffentlichkeit zu erhöhen, oder damit ihre Unfähigkeit, mit der Krise umzugehen, verbergen wollten“, argumentierte Krastev, der die Jugend in den Ländern des Westbalkans – den EU-Beitrittskandidaten Albanien, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien, sowie den potenziellen Kandidatenländern Bosnien und Herzegowina sowie Kosovo, als „die am meisten gefährdete Minderheit“ bezeichnet.

Die jungen Menschen hätten im Grunde weder die Zahl noch die politische Macht, um in ihren eigenen Ländern etwas zu verändern. Studien würden zeigen, dass beispielsweise Bosnien und Herzegowina seit dem Ende des Kalten Krieges 24 Prozent seiner Bevölkerung und Albanien zwölf Prozent verloren habe. Bis 2050 werde der Bevölkerungsverlust 37 Prozent betragen. „Die Idee der europäischen Erweiterung ist immer noch vorhanden. Aber da sie eine sehr ferne Perspektive ist, ist die Mobilisierungs- und Transformationskraft des Versprechens einer EU-Mitgliedschaft sehr begrenzt“, warnte Krastev. Jüngere Menschen würden den europäischen Integrationsprozess, der sie politisch stärke, nicht sehen, weshalb für viele die Auswanderung eine deutlich attraktivere Option darstelle.

Keine Vormachtstellung

Dazu komme, dass Europa seine unangefochtene Vormachtstellung auf dem Balkan eingebüßt habe. Bereits in den letzten Jahren sei eine viel stärkere politische, kulturelle und wirtschaftliche Aktivität verschiedener Akteure wie China, die Türkei und Russland zu beobachten gewesen, wobei diese von Land zu Land unterschiedlich sei. Das sei durch die Pandemie befeuert worden: „Die EU hatte aus leicht zu erklärenden Gründen nicht die Zeit und die politische Energie, sich auf die Region zu konzentrieren“, sagt Krastev.

So seien die meisten Impfstoffe in der Region entweder aus China oder aus Russland gekommen, während die Lieferungen aus Europa erst spät erfolgten. Krastev: „Das Ergebnis war, dass Länder wie Serbien, die ihre Impfstoffbeschaffung breit aufgestellt hatten und Vakzine aus Russland, China sowie Europa bezogen hatten, eine hohe Durchimpfungsrate aufweist, während in Ländern, die sich nur auf die EU verlassen, wie Nordmazedonien, bis vor kurzem fast gar nicht geimpft wurde.“

China und Russland

Für Serbien oder Albanien etwa würden neue Partner wie China, Russland oder die Türkei zunehmend interessanter aussehen. Eine Studie, die im Juni in Serbien zum Thema EU und Außenbeziehungen durchgeführt wurde, zeige, dass die Zahl der Serben, die der Meinung sind, dass China und Russland wichtigere strategische Partner als die EU sind, gestiegen ist. „Die Krise lässt uns jetzt Dinge deutlich erkennen, die schon zuvor da waren, die wir aber nicht sehen wollten“, sagte Krastev.

Mehr Informationen: www.diepresse.com/europakongress

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