Glaubensfrage

Das Prinzip Hoffnung

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Die Taliban in Afghanistan werden nicht das letzte Wort behalten.

Es sind diese extremen Ungleichzeitigkeiten, die erstaunen bis bedrücken. In Afghanistan werfen die neuen Mächtigen über die verarmte, seit vielen Jahren geplagte Bevölkerung ein enges Netz uralter Strukturen und Regeln, das allen, besonders Frauen, die Luft zum freien Atmen nimmt. Tatsächlich stockt auch der sogenannten westlichen Welt der Atem.

Vieles ist schwer zu fassen: Dass so rasch in einem Land die Zeit zurückgedreht werden kann! Dass eine von den USA ausgebildete und ausgerüstete Armee zerfällt! Dass alle Anstrengungen, wenigstens den Nukleus einer Demokratie zu bilden, nichts gefruchtet haben! Dass es nicht gelungen ist, die Bedeutung der Menschenrechte zu verankern!

Bleibt ein Hoffnungsfunke: Vielleicht schaffen es die Afghanen mit Blick auf jüngste Proteste diesmal selbst, so etwas wie eine Zivilgesellschaft zu bilden, die Mut und Kraft zum Einfordern unveräußerlicher Rechte hat. Die Taliban werden es nicht schaffen, den Hunger, auch den nach Freiheit, zu stillen, und sie werden nicht das letzte Wort haben. Deren Auslegung des Islam und Vorstellung vom „Gottesstaat“ werden von den wenigsten Muslimen geteilt. Und sind sowieso mit hart errungenen zivilisatorischen Fortschritten unvereinbar.

Wir sollten nicht vergessen: Nicht selten mussten diese Grundsätze auch bei uns, in dem, was wir den Westen nennen, dominierenden Religionsgemeinschaften erst abgerungen werden. Das gilt speziell für die katholische Kirche, die größte Gemeinschaft der Christenheit. Sie war über Jahrhunderte in vielen Weltteilen Träger, zumindest Verbündeter der Macht. Diese Macht ist zurückgestutzt, zurückgestutzt auf ein für die Demokratie erträgliches Maß. Zurückgestutzt auch auf ein ihrer eigentlichen Mission entsprechendes Maß. Geblieben sind Strukturen dieser ältesten, heute noch funktionierenden weltweiten Organisation, die weder der Zeit noch dem Auftrag entsprechen. Der Umgang mit Frauen, die Rechte für Mitglieder, Checks und Balances sind mehr als ausbaufähig.

Afghanen fallen von Flugzeugen in den Tod, sterben, weil sie gegen die Machthaber auf die Straße gehen, leben in Erwartung der weiteren Verknappung des Angebots am Allernotwendigsten. Und wir? Wir debattieren, rundum wohlig abgesichert in einem Sozialsystem mit Gurten, Airbags oben, unten, vorn, hinten, über Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Abschiebungen in dieses Land, die nächste Pensionserhöhung oder die Gefahren einer sich beschleunigenden Inflation.

Immer wieder diese Ungleichzeitigkeiten, die frappieren. (Da jammere noch jemand über die Ungleichzeitigen in der Christenheit.) Sie sind Teil des Lebens einer – trotz mancher Rückschläge – sich stetig nach vorn entwickelnden Menschheit. Dafür gibt es sehr viel an Evidenz. Wenn man die nicht sieht, muss das Prinzip Hoffnung herhalten.

dietmar.neuwirth@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2021)

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