Gastkommentar

„Ihr Geld ist nicht weg, es ist nur woanders“

(c) Peter Kufner
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Der toxische Cocktail von Sparzinsen und Inflationsrate macht traditionelles Vorsorgen zum Problem.

Wer sich bei Finanzthemen nicht auskennt, muss glauben, was andere erzählen. Und da man sich bekanntlich nicht überall auskennen kann, ist es wohl keine Schande, sich manchmal als unwissend zu outen und mangelndes Eigenwissen durch blindes Fremdvertrauen zu ersetzen. Bei Anlage-, Finanzierungs- und Versicherungsthemen sind es vorzugsweise Banken, Versicherungen und Finanzberater, denen das Vertrauen ausgesprochen wird.

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Wenn man verlässlich ausschließen kann, dass Anbieter oder Vermittler von Finanzdienstleistungen bestehende Wissensvorsprünge ausnutzen, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, besteht kein Anlass, sich mit dem Thema „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ weiter zu befassen. Bestehen jedoch Zweifel, sollte man auch nach der Entscheidung kritisch hinterfragen, ob man tatsächlich optimal beraten oder ob einem vielleicht nur ein angenehmes Gefühl vermittelt wurde.

Immerhin werden bei der Inanspruchnahme von Finanzdienstleistungen sowohl vom Anbieter als auch vom Nachfrager wirtschaftliche Interessen verfolgt, und der Vorteil des einen wird schnell zum Nachteil des anderen. Ein hoher Zinssatz beim Kredit, der anderswo deutlich geringer ausfällt, ein üppiger Aufschlag beim Wertpapierfonds, der anderswo nur minimal ist, oder eine stolze Prämie bei der Versicherung, die anderswo deutlich günstiger ist oder mehr Risken deckt, sind keinesfalls frei erfunden.

Langfristige Altersvorsorge

Wenn es darum geht, entstehende Kosten bei Finanzierungen und Versicherungen zu minimieren, bieten sich Zins- oder Prämienvergleiche zwischen mehreren Anbietern an. Dafür leisten Vergleichsportale im Internet gute Dienste. Und stellt man fest, dass es Möglichkeiten zur Optimierung gibt, lassen sich Korrekturen (die Umschuldung eines Kredites, die Umschichtung einer Kapitalanlage, die Kündigung einer Versicherung) im Regelfall mit angemessenem Aufwand herbeiführen.

Geht es hingegen um die Festlegung langfristiger Strategien, ist die Situation ungleich schwieriger, weil sich oftmals erst nach vielen Jahren zeigt, ob Erwartungen oder Versprechungen gehalten haben oder nicht. Dafür ist die Altersvorsorge ein besonders gutes Beispiel, denn sie kann über mehrere Jahrzehnte den Lebensstandard prägen, und Kurskorrekturen werden mit fortschreitender Dauer immer schwieriger.

Zinsen und Zinseszinsen

Erschwerend kommt bei diesem Thema hinzu, dass dabei finanzmathematische Mechanismen wirksam werden, die bei sehr langen Planungszeiträumen zu Ergebnissen, bei denen man zunächst einen Rechenfehler vermutet, führen: Dass ein Einmalbetrag von 1000 Euro bei einem Zinssatz von fünf Prozent nach 50 Jahren nur durch Zinsen und Zinseszinsen auf mehr als das Elffache (11.467 Euro) anwächst und es bei zehn Prozent mehr als das Hundertsiebzehnfache (117.391 Euro) sind, ist auf den ersten Blick erstaunlich und auf den zweiten Blick korrekt. Daraus könnte jedoch sehr leicht der falsche Eindruck entstehen, dass man das Problem einer irgendwann entstehenden Versorgungslücke im Ruhestand sehr bequem lösen kann. In Wahrheit sind die Dinge bei näherer Betrachtung wesentlich beunruhigender.

Würden beispielsweise 25 Jahre hindurch monatlich 100 Euro angelegt, hätte eine heute 40-jährige Person zu ihrem 65. Geburtstag insgesamt 30.000 Euro ohne Zinsen angespart und könnte davon noch weitere 25 Jahre mit monatlich 100 Euro zehren. Eine heute 40-jährige Frau hat übrigens der Statistik nach noch rund 44 Lebensjahre vor sich, beim heute gleichaltrigen Mann beträgt diese als „fernere Lebenserwartung“ bezeichnete Dauer immerhin noch rund 39 Jahre.

Käme es hingegen zu einer Verzinsung von einem, zwei, drei, vier oder fünf Prozent, würden Zinsen in der Höhe von 3994, 8492, 13.562, 19.283 oder 25.743 Euro hinzukommen, was dann rund 33.994, 38.492, 43.562, 49.283 oder 55.743 Euro ergäbe. Nach Versteuerung der Kapitalerträge (in der Höhe von 25 Prozent) wären es freilich nur mehr 32.995, 36.369, 40.172, 44.462 oder 49.307 Euro, die davon übrig blieben. Damit könnten in den folgenden 25 Jahren monatlich zwischen 121 und 251 Euro entnommen werden.

Erheblicher Kaufkraftverlust

Ganz anders sehen diese Zahlen jedoch aus, wenn man auch den Kaufkraftverlust in die Berechnungen einbezieht. So lässt eine jährliche Inflation von zwei Prozent (der kürzlich von der Europäischen Zentralbank genannte Zielwert) einen heutigen Preis von 100 Euro in 25 Jahren auf rund 164 Euro und in 50 Jahren auf rund 269 Euro steigen. Unsere heute 40 Jahre alte Person wird sich daher in 25 Jahren mit einer Kaufkraft von 59,76 Euro (im 26. Jahr) und von 37,15 Euro (im 50. Jahr) begnügen müssen.

Mit anderen Worten und verkürzt ausgedrückt: Die Person zahlt 25 Jahre lang monatlich 100 Euro ein und wird bei Anlagezinsen von null Prozent (Negativzinsen wollen wir zunächst ausschließen) eine Schrumpfung der Kaufkraft um mehr als 40 Prozent nach 25 Jahren und um mehr als 62 Prozent nach 50 Jahren erleben. Erst bei Verzinsungen in der Gegend von fünf Prozent über alle 50 Jahre könnte die Kaufkraft über die gesamte Entnahmeperiode erhalten bleiben und das zusätzliche Alterseinkommen vom 26. bis zum 50. Jahr um die Kaufkraft von zumindest 100 Euro monatlich aufgebessert werden.

Bewusstsein versus Panik

Die vermeintliche Tugend des traditionellen Sparens erscheint damit in einem ganz anderen Licht und führt früher oder später zu spürbaren Verlusten. Die Konsequenzen des vorher beschriebenen toxischen Cocktails niedriger Anlagezinsen und angestrebter Inflationsraten zu erkennen ist das eine, das Anlageverhalten noch vor dem aus der Luftfahrt bekannten „Point of no Return“ nachhaltig zu ändern ist das andere.

Beides gestaltet sich schwierig, denn bei der Problemerkennung wird man von der Politik wohl keine Unterstützung bekommen; hier ist die Angst vor einer Panikstimmung beim Thema der Altersvorsorge einfach zu groß. In der Bank- und Versicherungswirtschaft ist die Motivation infolge eigener Geschäftsinteressen zwar ganz anders gelagert, doch haben sich schon so manche Vorsorgeprodukte als untauglich herausgestellt. Auf deren Aufzählung wird hier verzichtet.

Was demnach verbleibt, ist eine sachliche Diskussion, die keine Ängste schürt, sondern einen akuten Änderungsbedarf beim langfristigen Anlageverhalten, insbesondere bei der Altersvorsorge, vermittelt. Wer sich nicht davon überzeugen lässt, in fortgeschrittene Anlageformen zu investieren, wird sich früher oder später mit dem Zitat von Baron Amschel Mayer Freiherr von Rothschild (1773–1855): „Ihr Geld ist nicht weg, es ist nur woanders“ kaum trösten können.

Berechnungshinweise: Monatlich vorschüssige Zahlungen, einfache Verzinsung während der Jahre, Kapitalisierung der Zinsen am Jahresende.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Prof. Dr. Gerhard Weibold (*1951) blickt auf langjährige Lehrtätigkeiten an Universitäten und Akademien zurück und ist Geschäftsführer von Unternehmen in Österreich und in Deutschland. Seit inhaltlicher Fokus richtet sich seit geraumer Zeit auf das Thema der Finanzbildung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2021)

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