Mautsysteme

Europas Suche nach der Maut-Harmonie

Logistik
Logistik(C) Kapsch
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Dutzende On-Board Units, lästige Stopps an den Grenzen und jede Menge Bürokratie sind die Markenzeichen des grenzüberschreitenden Lkw-Verkehrs. Neue Services und Technologien bieten Lösungen für das Dilemma.

Mangelnden Variantenreichtum kann man den europäischen Mautsystemen wahrlich nicht vorwerfen. Der „Fleckerlteppich“, der schon bei den unterschiedlichen Technologien zur Erfassung der Fahr- und Positionsdaten der Lkws beginnt, zeichnet sich vor allem durch uneinheitliche Abrechnungs- und Kontrollprozesse aus. Landesspezifische Schnittstellen zu nachgelagerten IT-Systemen, verschiedene Definitionen für Mautgebiete oder divergierende Rechnungslayouts machen den grenzüberschreitenden Verkehr zum bürokratischen Hürdenlauf. Die Leidtragenden sind Frächter beziehungsweise Lkw-Lenker, die für nahezu jedes befahrene Land eine eigene On-Board Unit (OBU) in ihren Lkws anbringen, einen eigenen Vertrag mit einem der nationalen Maut-Dienstleister abschließen und separate Rechnungen akzeptieren müssen.

Um paneuropäische Fahrten zu vereinfachen, verabschiedete die EU bereits im Jahr 2004 eine Richtlinie, die die Interoperabilität europäischer Mautsysteme gewährleisten soll. Der European Electronic Toll Service (EETS) machte den Weg frei für eine neue Generation von Providern, die ihre Dienste über Landesgrenzen hinweg anbieten dürfen. Neue automatisierte Services und Technologien machen nun Hoffnung, dass beim grenzüberschreitenden Lkw-Verkehr mehr Effizienz einkehrt.

Tagesaktuelle Daten

Das Ziel, ganz Europa mit nur einer On-Board Unit abzudecken, verfolgt etwa der akkreditierte EETS-Provider Toll4Europe. Auf Basis der bestehenden Tolling-Plattform des Partners T-Systems wurde ein Mautsystem entwickelt, das die unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Länder erfüllt. Ein elementarer Teil dieser Lösung ist eine speziell entwickelte OBU-Software. „Im steten Wechsel zwischen Satellitenortung, Mobilfunk und Kurzstrecken-Kommunikation erkennt und überträgt das System den Fahrzeugstandort und berechnet selbstständig die fällige Maut. Außerdem stellt unsere Plattform alle erhobenen Daten tagesaktuell zur Verfügung“, erklärt Mirka Dworschak, Geschäftsführerin Toll4Europe. Letzteres soll nicht zuletzt einem effektiven Fuhrparkmanagement dienen. Aktuell wird das Service für mitteleuropäische Länder wie Belgien, Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Ungarn sowie diverse Tunnel angeboten. Schon bald soll das Angebot auf weitere skandinavische und osteuropäische Länder ausgeweitet werden.

Kartenlösung

Zu den Mautdienstleistungsanbietern, die auf Basis der europäischen EETS-Direktive registriert sind, zählt auch Tolltickets. Mit dem Tochterunternehmen der Kapsch TrafficCom hat Ende August das mittelständische Mineralölunternehmen Hoyer mit Sitz in Niedersachsen eine Kooperation vereinbart: Hoyer wird seinen Kunden künftig mit einer eigenen Tankkarte, der HoyerCard, eine OBU anbieten, mit der Lkw ihre Mautzahlungen in Europa vollautomatisch und mit einheitlicher Abrechnung durchführen können. Kapsch TrafficCom liefert mit der On-Board Unit einen wichtigen Teil der EETS-Infrastruktur. „Über diese IT-Infrastruktur wird Hoyer die Maut für seine Kunden in allen europäischen Ländern, die derzeit EETS in ihrem System freigeschaltet haben oder in denen es andere Mautserviceverträge mit Tolltickets gibt, verrechnen“, erläutert Georg Kapsch, CEO von Kapsch TrafficCom, den Vorteil dieser Lösung.

Über Mautlösungen der Zukunft macht man sich auch beim öffentlichen Unternehmen Toll Collect, das im Auftrag des Bundes das deutsche Lkw-Mautsystem betreibt, konkrete Gedanken. Ende Oktober präsentierte der Technologiedienstleister beim ITS World Congress in Hamburg die App TollNow, die ein Echtzeitrouting auf dem Smartphone ermöglicht. Genutzt wird wie bisher das eigene Smartphone, auch die Deklaration des Fahrzeugs bleibt gleich. Per Knopfdruck wird die Fahrt gestartet. Mit der App können die Routen genauso frei gewählt werden wie im automatischen Verfahren über die On-Board Unit. Am Ziel angekommen, reicht wieder ein Knopfdruck, um die Fahrt händisch zu beenden. Der Betrag für die mautpflichtige Strecke wird sofort angezeigt. Neben dem Smartphone ist keine weitere Hardware erforderlich. Verfügbar ist die App voraussichtlich ab 2023.

Mautplattform

Zugleich arbeitet Toll Collect an einer zukunftsträchtigen Mautplattform. „Das Mautsystem wird über verschiedene Schnittstellen geöffnet. Dadurch entsteht sowohl bei der Mauterhebung als auch bei der Bereitstellung mautbezogener Daten in den Datenräumen und Abrechnungssystemen der Kunden die Mautplattform“, erläutert Kommunikationsleiter Martin Rickmann den Modus operandi. Als erste wichtige Schnittstelle dieser Plattform geht Anfang 2022 der zentrale Mauterhebungsdienst (MED) an den Start.

Die Rede ist von einer Lösung, die den in Deutschland zugelassenen EETS-Anbietern eine zentrale Erkennung und Tarifierung der Maut zur Verfügung stellt. „Das stellt eine einheitliche Bemautung aller Kunden bei sämtlichen Mautberechnungen im deutschen Netz sicher. Alle EETS-Anbieter in Deutschland können das Service ab Anfang 2022 zunächst freiwillig nutzen, ab 2026 ist es gesetzlich verpflichtend“, so Rickmann.

AUF EINEN BLICK

Der European Electronic Toll Service(EETS) ist ein Dienst, der die Entrichtung von Mautgebühren mit einem einzigen Vertrag bei einem einzigen EETS-Provider und nur einer On-Board Unit (OBU) in der gesamten EU ermöglichen soll. Die Grundlage dafür ist eine Richtlinie zur Interoperabilität der elektronischen Mauten in der Europäischen Union, die 2004 vom Rat der EU erlassen wurde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2021)

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