Lieblingsbücher

Diese Romane haben uns 2021 begeistert

Von schamlosen Biografen und höherem Nonsens, von Amerikas Feinden und Selbstfindung: Welche Bücher den Rezensenten der "Presse“ heuer besonders gefielen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

In der „Presse am Sonntag“ finden sie am 12. Dezember auf der Bücherseite weitere Empfehlungen.

Die Liebe in Zeiten des Brexit

Ein furioses Finale hat Ali Smith 2021 ihrer Jahreszeiten-Tetralogie beschert. Auf hohem Niveau beeindruckt die schottische Autorin in „Sommer“ durch anspielungsreiche Raffinesse und große Lust am Erzählen. Einige der Figuren kennt man schon: Der Hunderteinjährige aus "Herbst" zu Beginn der Reihe ist inzwischen 104. Er wird von einem Blogger besucht, der mit seiner Freundin bereits in „Winter“ Krisen durchlebte. Die Handlung ähnelt dem richtigen Leben: Man begegnet sich, verliert sich aus den Augen. Freundschaften entstehen, zerbrechen. Dabei ist Smith hoch aktuell: Großbritannien vor und nach dem Brexit, Flüchtlingskrise, Klimawandel. Immer aber auch ein wenig Nostalgie und viel Poesie - nicht nur in der Jugend. (norb)

Ali Smith: Sommer. Luchterhand Literaturverlag, 384 Seiten, 22, 70 Euro.

Drei Brüder und ein Abschied

Es ist kurz vor Mitternacht, ein Polizeiauto nähert sich dem entlegenen alten Holzhaus am See. Auf der Steintreppe davor sehen die Polizisten drei Männer sitzen, blutend, mit geschwollen Gesichtern. Mit dieser Szene beginnt „Die Überlebenden“ – und von da an geht es nur noch zurück in der Zeit. Eindringlich erzählt der Schwede Alex Schulman die Geschichte dreier Brüder, die die Asche ihrer Mutter in einem See verstreuen sollen in umgekehrter Richtung. Ein außergewöhnlicher Familienroman.

Alex Schulman: Die Überlebenden. DTV, 303 Seiten. 22,70 Euro.

Ein Bilderreigen in allen Farben

Mit dem Buch „Margherita“ hat Jana Revedin im vergangenen Jahr aufhorchen lassen, heuer hat sie einen Roman über Jean Michel Frank herausgebracht. Er war ein angesagter Innenarchitekt und Möbeldesigner der Zwischenkriegszeit, der später in Vergessenheit geriet. Jetzt erinnert man sich wieder seiner schöpferischen Kraft – der Besessenheit für Material und Oberfläche, der Akribie, mit der er Räume gestaltete. Als Jude verließ er Paris während des Krieges und flüchtete auf einem Schiff nach Südamerika. Mit seiner Cousine Anne Frank schrieb er sich Briefe – er konnte die Familie nicht retten. Sein unglaubliches Leben hat Jana Revedin auf zarte, einfühlsame Weise nachgezeichnet – ein Bilderreigen in allen Farben – einmal dezent und gedeckt, einmal kräftig und leuchtend, einmal düster und kühl. (cle)

Jana Revedin: Flucht nach Patagonien. Aufbau Verlag, 415 Seiten, 22,70 Euro.

Die Geheimnisse der Surie Eckstein

Surie Eckstein ist 57 Jahre alt und die Frau von Rabbi Yidel Eckstein; sie hat zehn Kinder auf die Welt gebracht, nennt mittlerweile 32 Enkel ihr Eigen und ist der Mittelpunkt ihrer großen, eng verbundenen Familie. Dann stellt Surie fest, dass sie wieder schwanger ist. Mit Zwillingen. Diese Nachricht stellt sie vor ein Dilemma: Ihre strenge orthodoxe Gemeinde in Williamsburg wird für diese späte Schwangerschaft kein Verständnis haben, gleichzeitig ist es die wichtigste Aufgabe einer jüdisch-orthodoxen Frau, möglichst viele Kinder zu gebären, jedes Kind ist „eine ganze Welt“. Diese Krise lässt Surie viele Gewissheiten hinterfragen und reißt alte Wunden auf. Goldie Goldbloom weiß, wovon sie erzählt: Ein bemerkenswerter Roman. (do)

Goldie Goldbloom: Eine ganze Welt. Hoffmann und Campe, 288 Seiten, 24,90 Euro.

Sie wollte doch nur Jesus kitzeln

Er nennt sie seinen Augenstern. Sein Prachttier. Seine himmlische Auserkorene. Er verehrt sie, begehrt sie, himmelt sie an. Kurt, ein Tierarzt auf dem Lande, spezialisiert auf Nutztiere, geht auf dem Hofe ein und aus, er ist ein Freund der Familie, kennt die Traumata, die diese heimgesucht haben, weiß um die Verletzlichkeit des jüngsten Kindes, eines Mädchens. Das er, es ist gerade 14, zu umwerben beginnt. Vorsichtig erst, er redet mit ihr über Musik, Filme, Literatur, dann dreister. Und unglaublich manipulativ. Marieke Lucas Rijnevelds zweiter, sprachmächtiger, wie atemlos geschriebener Roman ist eine Geschichte über Missbrauch, aber nicht nur: Wer sich darauf einlässt, erfährt so manch Irritierendes über die Liebe, die eben nicht rein ist, nicht selbstlos - und oft auch zerstört. (best)

Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier. Suhrkamp Verlag, 364 Seiten, 24,70 Euro.

Einbruch mit Folgen

Der 17-jährige Tyler versucht, anständig zu bleiben. Das sagt sich leichter, als es ist, denn der Jugendliche lebt in einem heruntergekommenen Viertel von Edinburgh und wird von seinem sadistischen Bruder Barry gezwungen, in fremde Häuser einzubrechen. Von der Mutter ist keine Hilfe zu erwarten, sie hängt an der Nadel und wandelt von Überdosis zu Überdosis. Einziger Lichtblick ist die kleine Schwester Bean, um die er sich liebevoll kümmert. Empathie, nicht Gefühlsduselei, ist es, was "Der Bruch" ausmacht. Dadurch berührt Autor Doug Johnstone, der die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der versucht, sich selbst zu finden und sich selbst treu zu bleiben. Der Schotte hat einen unter die Haut gehenden Kriminalroman geschrieben, wie man ihn nur äußerst selten liest. (phu)

Doug Johnstone: „Der Bruch“. Polar Verlag, 308 Seiten, 20,50 Euro.

Eine Geschichte von Verrat, Verlust und Liebe

1993: Johannes, ein junger Rumäne, ist Hörgeräteakustiker in Nürnberg. Soeben hat er erfahren, dass sein Vater verstorben ist; die Nachricht ist seit Jahren der erste Kontakt mit seiner Familie. Noch vor Ende des Kommunismus ist er nach Westeuropa geflüchtet, und noch heute träumt er von der Flucht – und von seinem Freund David, mit dem er sich auf die Durchquerung der Donau vorbereitet hat. Aber David ist damals nicht mitgekommen, und Johannes weiß nichts über seinen Verbleib. Wasser fürchtete Johannes lange Zeit, doch es bedeutete auch seine Rettung. Zum Schwimmen gezwungen hat Johannes einst sein trunksüchtiger Vater; dass der Bub dabei fast ertrunken wäre, war dem Vater einerlei. Der Vater-Sohn-Konflikt birgt Aggression und Gewalt; genauso angespannt war die Stimmung im Land: Jedes Familienmitglied konnte ein Spion sein, doch wollte das keiner genau wissen. Nun kehrt Johannes zurück in die alte Heimat, die für ihn längst keine mehr ist, und stellt Fragen. Einfühlsam erzählt Schneider über einen jungen Mann, der sich in seiner neuen Heimat eine Existenz aufgebaut hat – aber feststellen muss, dass man die Vergangenheit nie so einfach abschütteln kann. (AB)

Nadine Schneider: „Wohin ich immer gehe“. Roman, 240 Seiten, geb., € 22 (Jung und Jung Verlag)

Die Verräter sind unter uns

Die Kunst eines guten Thrillers ist es, aktuelle Alltagsängste zu identifizieren und daraus rasante Unterhaltung zu machen. In "State of Terror" erfährt man, was eine amerikanische Außenministerin aus dem Schlaf schrecken lässt: islamische Terroristen mit einem Draht zu Amerikas Feinden im Inneren und Zugang zu Atomwaffen. "State of Terror" ist der erste Thriller von Hillary Clinton und ihrer Freundin, der kanadischen Krimi-Autorin Louise Penny. Im Mittelpunkt steht US-Außenministerin Ellen Adams, 50 Jahre alt, „ehrwürdig blond“, sympathisch, mit einem Sinn für Humor und einem Hang zur Selbstironie. Eine Serie von Bombenanschlägen erschüttert die Machtzentren des Westens; bald wird klar, dass es sich dabei nur um Fingerübungen handelt und Ellen Adams eine Katastrophe verhindern muss. Höchst spannend, flott erzählt, gut geschrieben - möglicherweise der beste Thriller des Jahres. (do)

Hillary Rodham Clinton/Louise Penny: "State of Terror“. Harper Collins, 560 Seiten, 24,70 Euro

Das Schlimmste in einem Männerleben

Norbert Gstrein hört einfach nicht auf, immer besser zu werden, wo wird das noch enden? Erzählerisch vielleicht virtuoser denn je wird hier ein Männerleben hinterfragt, außerdem auch der Sexismus und Rassismus einer ganzen Kultur: In „Der zweite Jakob“ wird ein bekannter Schauspieler vor seinem 60. Geburtstag durch einen schamlosen Biografen und seine eigene Tochter auf nicht wiedergutzumachende Versäumnisse und eigene Abgründe gestoßen. In den Rückblicken auf verhängnisvolle Geschehnisse bei Dreharbeiten in den USA zieht sich das Buch ein wenig, man verschmerzt das leicht – zumal angesichts der tief berührenden Vater-Tochter-Geschichte. (ac)

Norbert Gstrein: Der zweite Jakob. Hanser, 448 Seiten, 25,70 Euro.

Die Zersetzung einer Ehe

Claudio und Antonio Pichler, sie Ghostwriterin, er Fernsehmoderator, sind an einem fatalen Punkt in ihrer Ehe angekommen. Als Antonio von einem Baum stürzt und anschließend einen schweren Herzinfarkt erleidet, stellt sich die Frage, wieso zwischen dem Unfall und der Erstversorgung einige Stunden verstrichen sind. Und was zwischen Claudia und Antonio an Unverzeihlichem passiert ist, dass sie in eine derartige Spirale von Hass hineingeraten sind? „Das hast du verdient“ ist ein kompakter Horrortrip von Ehe-Roman, in dem die Protagonisten einander nichts schuldig bleiben, in dem Vergeben und Vergessen nur von kurzer Dauer sind. Frandino braucht nicht viele Worte, um den Zersetzungsprozess einer Beziehung auf das Wesentliche herunterzubrechen, aber jedes davon sitzt und sticht. (do)

Barbara Frandino: "Das hast du verdient“. Folio Verlag, 165 Seiten, 22 Euro

Norddeutsche tanzen in Sansibar mit Schwänen

Grandios abgefahren und befreiend ist dieser Roman über ein norddeutsches Aussteigernest namens Zandschow, deren renitente Bewohner sich nicht in die Realität einer „abgehängten“ Provinz fügen. Die Fantasie hat ihr alles verwandelt. Den Feuerlöschteich zum Beispiel könnte man auch getrost für keinen Feuerlöschteich halten" – aus ihm wird hier der Indische Ozean, und aus Zandschow selbst wird Sansibar, wo man das Leben mit herrlich absurd klingenden Ritualen feiert: etwa einem choreografierten Tanz mit Plastikschwänen. Viel politische Aufsässigkeit und biografische Traurigkeit steckt in diesem höheren Nonsens des Leipziger Autors Thomas Kunst, der bisher vor allem als Lyriker bekannt war. Sein Roman hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gebracht. Freunde konventionellen Erzählens könnten sich davon vor den Kopf gestoßen fühlen. Liebhaber des Grenzen sprengenden Spiels mit Sprache, Sound und Einbildungskraft aber dürften hier mehr auf ihre Kosten kommen als bei jedem anderen deutschsprachigen Roman dieses Jahres. (ac)

Thomas Kunst: Zandschower Klinken. Suhrkamp, Berlin 2021, 254 Seiten, 22,70 Euro.

Der Professor und die Ente

William Henry Devereaux Jr. hat sich als interimistischer Vorstand der Anglistikfakultät der West Central Pennsylvania University und unkündbarer Professor in seiner Komfortzone und Routine eingerichtet. Den Traum vom Romanautor hatte er nach einem vielversprechenden Debüt an den Nagel gehängt, und kurz vor seinem 50. Geburtstag streift ihn die Midlife-Crisis. Die Prostata zwackt, die Ehe seiner Tochter kriselt und an der Uni droht ein Sparprogramm. Vor einem Wochenendbesuch bei ihrem Vater verabschiedet sich seine lebenskluge Frau Lily mit den Worten, er solle bloß nicht im Gefängnis oder im Krankenhaus landen. Ironisch-entlarvend, aber mit Liebe für sein Personal spießt der frühere Collegeprofessor das Campusmilieu in schreiend komischen Szenen auf. 

Richard Russo: „Mittelalte Männer“. Dumont, 608 Seiten, 26,80 Euro.

Ermittlungen im Filmbusiness

In ihrem heuer erschienenen Kriminalroman „Lockvogel“ plaudert Theresa Prammer aus der Schule – in doppelter Hinsicht. Selbst Schauspielerin und Regisseurin erzählt sie über das Filmbusiness. Und eine der beiden Hauptfiguren, Toni Lorenz, ist Studentin an einer Schauspielschule. Der andere, Edgar Brehm, ist Privatdetektiv und beide stecken ziemlich in der Klemme, brauchen dringend Geld. Brehm wird von der Frau des bekannten Regisseurs Alexander Steiner engagiert. Hat Steiner eine Freundin – und wenn ja, ist sie das freiwillig oder wurde sie von Steiner genötigt? Und was hat das alles mit dem Toten zu tun, der nach einem rauschenden Fest im Pool der Steiners schwimmt? Theresa Prammer hat einen humorvollen, dennoch spannenden und überraschenden Krimi mit glaubwürdigen Figuren vorgelegt, wäre schön, mehr von diesem Duo zu lesen. (cle)

Theresa Prammer: Lockvogel. Haymon, 376 Seiten, 24,90 Euro

Sex, Leben und Sterben in Buchschachen

Die Journalistin Vera kehrt nach ihrer Kündigung nach Buchschachen im Südburgenland zurück, ins Haus ihrer Urlioma. Bei der (Wieder)Eingewöhnung ans Landleben helfen ihr und ihrer pubertierenden Tochter Letta die Frauen des „Klubs der grünen Daumen“: darunter auch die schöne Eva, Gattin des windigen Bauunternehmers Paul, und Finz, Experte für Inka-Erde und frustrierte Ehefrauen. Ziel des Klubs ist es, möglichst vielfältige Kräutlein zum Sprießen und möglichst viele Nacktschnecken unter die Erde zu bringen. Die gärtnerische Mordlust macht allerdings bald nicht mehr bei Schnegeln halt und Evas Mann segnet unter eher unwürdigen Umständen das Zeitliche.

Leben, Sterben und Sex sind die Zutaten dieses kecken Krimis voll Lokalkolorit der Journalistin Martina Parker. Dazu kommen spannende biologische Informationen wie die, dass es die Schneckenart Limax redii bei einer Körpergröße von 13 bis 15 Zentimeter auf einen 85 (!) Zentimeter langen Penis bringt. Die besten Krimis schreibt letztlich doch die Natur, man muss die Anleihen nur zu nützen verstehen. (do)

Martina Parker: „Zuagroast“. Gmeiner-Verlag, 507 Seiten, 17 Euro

Eine Pfarrers-Familie in den Siebzigern

Es ist raffiniert, wie Jonathan Franzen – nachdem er sich in „Unschuld“ dem Thema Verantwortung gewidmet und in „Freiheit“ gezeigt hat, wie der Mensch zwischen Anpassung und Freiheitswunsch zappelt – diesmal das Thema Glauben anpackt. Da finden Menschen aus sehr seltsamen, egoistischen, halluzinogenen Gründen zu Gott (zurück). In den siebziger Jahren, in der Familie eines evangelischen Pastors, natürlich ein besonders drängendes Thema. Der wahrlich nicht schmale Roman „Crossroads“ ist der Auftakt zu einer Trilogie.

Jonathan Franzen: Crossroads. 832 Seiten, geb., € 28,80 (Rowohlt Verlag, Berlin)

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