Quergeschrieben

Über den Fortschritt, der größer aussieht, als er ist

Über den Fortschritt, der größer aussieht, als er istWir blicken vorwärts und bleiben doch auf demselben Fleck. „Der Fortschritt ist ein Standpunkt und sieht wie eine Bewegung aus.“ (Karl Kraus)

Das Wort des Jahres 2021 ist in Deutschland „Wellenbrecher“, in der Schweiz „Impfdurchbruch“ und in Österreich „Schattenkanzler“. Mentalitätsforscher dürfen darüber nachdenken, warum eine ähnliche pandemische Lage die Deutschen martialisch-optimistisch und die Schweizer skeptisch stimmt. In den beiden Nachbarstaaten entschieden ausgewiesene Sprachwissenschaftler auf der Grundlage von Textdatenbanken und Diskursanalysen. Bei uns hingegen gab es eine Umfrage, an der sich immerhin 11.843 Österreicher (m/w/d) beteiligten. Der Schattenkanzler siegte mit knappem Vorsprung vor „3-G“, woran man sieht, dass uns das Ephemere mehr bewegt als das Bleibende.Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

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Meine Wahl wäre „Fortschritt“ gewesen, denn der Fortschritt erfreut sich neuerdings wieder besonderer Beliebtheit. Er ist so inklusiv, dass er sogar alte weiße Männer einschließt. In Amerika steht ein 79 Jahre alter Präsident an der Spitze des Fortschritts, und in Italien ist der fortschrittliche Ministerpräsident ein 74 Jahre alter Zentralbanker. In Wien gibt es eine Fortschrittskoalition, womit gemeint ist, dass die Neos, die den Liberalismus auf den Kopf gestellt haben, die SPÖ unterstützen, die diese Stadt seit Menschengedenken fortschrittlich regiert. In Deutschland gibt es eine Fortschrittskoalition zwischen den Sozialdemokraten, die nach dem Abgang einer von fortschrittlichen Kräften geförderten Kanzlerin den Fortschritt neu erfunden haben, sowie den fortschrittlichen Liberalen und den fortschrittlichen Grünen. Wie der FDP-Vorsitzende Christian Lindner wiederholt betonte, geht diese Regierung weder nach links noch nach rechts, sondern nach vorn, wobei Lindner offenlässt, ob sie ihre Politik nach oben oder nach unten fortschrittlich ausrichtet.

Wer sich fortschrittlich nennt, will damit vor allem sagen, dass sein politischer Konkurrent das nicht ist. Wertende Selbstkennzeichnungen dieser Art richten sich implizit immer gegen die anderen. Wie die gegenläufige Bezeichnung „konservativ“ ist auch „fortschrittlich“ erklärungsbedürftig. Was will der Konservative konservieren? Wohin will der Fortschrittliche schreiten? Die klassische Formulierung, der Weg sei das Ziel, stammt von dem übrigens ziemlich kolonialistisch und rassistisch verseuchten Sozialdemokraten Eduard Bernstein (1850–1932). Sie ist natürlich keine Antwort, sondern drückt nur recht elegant aus, dass man lieber nicht sagen will, was man erreichen möchte. Im Vergleich dazu ist die Losung „Demokratie, das ist nicht viel, der Sozialismus ist das Ziel“ weniger elegant, aber wenigstens ehrlich.

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