Morgenglosse

Warum wir die unpopuläre EU doch wieder brauchen

Two activists with the EU flag and Union Jack painted on their faces kiss each other in front of Brandenburg Gate to protest against Brexit in Berlin
Two activists with the EU flag and Union Jack painted on their faces kiss each other in front of Brandenburg Gate to protest against Brexit in BerlinREUTERS
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Die Pandemie, die internationale Lage, die wirtschaftlichen Folgen – alles schreit nach Zusammenarbeit. Eine Ehrenrettung.

Natürlich geht es auch ohne EU. Das dachten sich viele Briten und stimmten 2016 für den Brexit. Doch die Folgen sind – nicht allein wegen des organisatorischen Chaos der Johnson-Regierung – weit schlimmer als erwartet. Mittlerweile fehlt es Großbritannien an Lkw-Fahrern, Pflegepersonal, an manchen Lebensmitteln und vor allem an einer Zukunftsperspektive.

Es ist für nationale Regierungen leicht, die Europäische Union und die zugezogenen EU-Bürger für alles Schlechte verantwortlich zu machen. Das stößt stets auf verlässliche Zustimmung. Aber ist es auch so? Nationale Selbstbestimmung und Vorrang für eigene Mitbürger klingen sympathisch und sind es natürlich in vielen Fällen auch. Aber es gibt in einer global vernetzten Welt Themen, die nicht mehr allein bewältigbar sind. Dafür ist die Pandemie mit all ihren Verwerfungen ein gutes Beispiel.

War es vielleicht doch mehr als vernünftig, die Impfstoffe in ausreichenden Mengen in der EU gemeinsam zu beschaffen? War es vielleicht nützlich, den Aufbau der Produktion von Medikamenten innerhalb der EU gemeinsam zu koordinieren und zu fördern? Wird es notwendig sein, nun gemeinsam die Wirtschaft wiederaufzubauen, die Schulden nicht aus den Augen zu verlieren? Wird es besser sein, eine gemeinsame Position gegenüber Russland zu entwickeln als Osteuropa und wichtige Partnerländer ihrem Schicksal zu überlassen?

Die populäre nationale Antwort passt nicht überall. Im Fall der Impfstoffe ist kaum auszudenken, wäre Österreich allein auf sich gestellt gewesen. Im Fall des eigenständigen Aufbaus von Produktionen braucht es nur einen kurzen Blick auf die Nichtrealisierung des gemeinsamen Projekts mit Israel. Wäre jedes europäische Land in solchen Krisen nur auf sich selbst gestellt gewesen, wären neue Barrieren im Handel die Folge, wie bei medizinischem Material zu Beginn der Pandemie. Jeder gegen jeden ist bei der Bewältigung von derartigen Problemen kontraproduktiv.

Es ist Zeit für eine Ehrenrettung der EU. Ja, sie ist fehlbar, sie hat Defizite. Aber ist es deshalb notwendig, sie auf eine minimale Wirtschaftsgemeinschaft zu reduzieren, wie es viele in der Vergangenheit gefordert haben? Sicher nicht. In einigen Feldern – wie der Gesundheit – braucht es noch mehr Zusammenarbeit. Es braucht dies auch bei der Migration, weil es keine Lösung für Europa ist, wenn ein Land nach dem anderen Menschen weiterschickt, bis sie irgendwo einmal Aufnahme finden. Es braucht Kooperation in der Forschung, beim Klimaschutz und wohl auch in der Sicherheitspolitik.

EU muss unsere Freiheit schützen

Die EU muss aber auch wieder unsere Freiheit schützen, die von nationalen Regierungen bedroht wird. In Ländern wie Polen und Ungarn durch Einschnitte in die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz. In vielen anderen Ländern etwa durch nationale Reisebeschränkungen, die seit der Pandemie unsere Bewegungsfreiheit reduziert haben. Das klingt zwar nach einem kleinen, temporären Problem, doch das ist es nicht – siehe Großbritannien. Vertreter der EU-Institutionen waren in der Anspannung der Pandemie die Einzigen, die für das Offenhalten von Grenzen für alle Waren und Menschen geworben haben. Manchmal braucht es die EU auch als Korrektiv im Sinne gemeinsamer Interessen.

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