Ikone des Speeds

(c) Andreas Riedmann
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Für manche ist sie der Gral der schnellen Fahrt, für manche eine Beule.

»»Die Realität entpuppte sich als Rohrkrepierer.««

Als an einem angenehm warmen Frühlingstag im Mai 1999 der Lamborghini Diablo mit 321 km/h über die Ziellinie im Highspeed-Kreis von Nardo zippte, war das zunächst ein Trauerspiel für die anwesenden Motorrad­enthusiasten, die all ihre Hoffnungen auf Suzukis neue Wunderwaffe gesetzt hatten. Keine Frage, als die schwarze Hayabusa wenige Sekunden später mit 312 km/h unter Radikalisierung des Dopplereffekts zornig kreischend durch die Lichtschranke stob, war das alles andere als ein dunkler Moment in der Geschichte des Serienmotorradbaus. Aber der ersehnte Sieg gegen das Automobil war es nicht. Ein Journalist neben mir bedachte den Ausgang der Vergleichsfahrt mit knapper Poesie: „Oida, i wü sterm!“

Die Enttäuschung war von kurzer Dauer. Denn erstens konnte der Lambo seinen Sieg bei der unmittelbar folgenden Revanche nicht wiederholen, da der Zwölfzylinder thermische Probleme bekam, und zweitens waren echte 312 km/h für ein Serienmotorrad eine weltweite Sensation und eine Frohbotschaft, die den Glauben an eine glorreiche Zukunft nährte. „In four years they’ll launch the next Hayabusa and then the 200mph are done!“, war sich der britische Kollege „Weeble“ (engl. für Stehaufmännchen, den Spitznamen hatte er allerdings wegen seiner Körperform, nicht wegen seines Talentes, nach Stürzen wieder aufzustehen) ganz sicher. Eh klar. Wenn die Japaner aus einem 1299 ccm Reihenvierer standfeste und zulassungsfähige 175 PS holen und damit souverän die 300er-Marke knacken, werden sie in vier Jahren ein paar Kubik und 25 PS mehr einfüllen und 332 km/h liefern. Da waren wir uns alle einig.

Der Boulevard war der härteste Gegner des Wanderfalken. Allerdings entpuppte sich die Realität in diesem Fall als Rohrkrepierer. Zwar war die Hayabusa ein perfekt funktionierendes Motorrad mit großer Stabilität und souverän präzisem Fahrverhalten, aber der Aufschrei des Boulevards war mörderisch. Sinnbildlich pflanzten die Marktschreier mit ihren großen, weithin scheppernden Megaphonen eine simple Botschaft in den nicht zur Differenzierung fähigen Denkraum zwischen den Ohren von Menschen, denen Motorräder schon a priori ein Gräuel sind: „Die Hayabusa ist wahnsinnig gefährlich! Man muss solche Maschinen verbieten“, in der Tour. Legendär in diesem Zusammenhang war die per Heli­kopter gefilmte Demonstrationsfahrt von Toni Mang auf der deutschen Autobahn. Der 250er-Weltmeister sah seine Aufgabe darin, der Welt zu zeigen, wie präzise, gut und sicher die Hayabusa mit mehr als 300 km/h fährt, der Sender RTL allerdings wertete die bewegten Bilder ganz anders und drückte damit nicht nur den Alarmknopf bei vielen Motorradgegnern, sondern weckte auch den Boulevard, dessen Vertreter sich dankbar auf das Thema stürzten. Der Aufschrei in Europa war so eindringlich, dass die japanischen Hersteller dem drohenden Verbot von Highspeed-Maschinen mit einem Kniefall zuvorkamen: Sie wählten die freiwillige Selbstbeschränkung auf 299 km/h. Ein Drama. Weeble weinte. Der Traum von den serienmäßigen 200 mph (321 km/h) war ausgeträumt.

»»Spüre ich die Macht des großen Hubraums, bin ich eins mit mir.««

299 km/h im fünften Gang. Die nächste Generation der Hayabusa kam dann erst neun Jahre später, 2008. Der neue Motor hatte 1340 ccm und 197 PS. Wie unfassbar stark der Wanderfalke von Suzuki jetzt war und welch enormes Potenzial jenseits der 299er-Beschränkung lauerte, wurde bei der ersten Testfahrt am Salzburgring offensichtlich. Auf der langen, deutlich ansteigenden Gegengeraden, auf der selbst sehr potente Rennmaschinen immer Gefahr liefen „zu verhungern“, riss die Hayabusa dermaßen gierig an, dass die Nadel des Tachos beim Stopper bei 299 km/h anstand - im fünften Gang wohlgemerkt. Den sechsten konnte ich leider nicht mehr nachlegen, weil ich beim schon dringend fälligen Einlenken in die Fahrerlagerkurve keinesfalls die gesamte Böschung hinauf bis zum Zaun kugeln wollte. Wow! Die Kraft, die Geschwindigkeit und die Stabilität des Wanderfalkens 2.0 waren überwältigend. Was für eine Maschine, welch Ingenieurskunst!

Dass dennoch ein gar nicht so kleiner Teil der Motorradgemeinde emotional nicht voll aus dem Häuschen war, wie man so sagt, lag schlicht und ergreifend am Aussehen der gewaltigen Fuhre. Die ausladende Verkleidung war in Bezug auf die Aerodynamik fantastisch, aber einen schlanken, pfeildürren Wanderfalken konnte man da beim besten Willen nicht erkennen. Eher einen Strauß, nur ohne Hals.

Mitunter wurde die Maschine auch als „Beule“ bezeichnet. Mir persönlich ist das Design aber voll in die Seele gefahren. Die zweite Hayabusa mit ihren runden, irgendwie barocken und doch topmodernen Formen wirkte auf mich wie eine Maschine aus einem japanischen Manga. Genial!
Wenn man an der Ampel auf das Grün wartete und der Reihenvierer im Standgas wie ein hungriger Wolf röchelte, stand man unter Beobachtung – entweder von Insidern, die über die monströse Kraft der Suzuki Bescheid wussten, oder von Menschen, deren Blicke vom aufsehenerregenden Design in den Bann gezogen wurden. Man sah es dem eisengewordenen Wanderfalken einfach an, dass er etwas ganz Besonderes war. In jedem Fall wohnte ihm die Macht des großen Hubraums inne.

(c) Andreas Riedmann

Einmal geht noch

Die Hayabusa wurde in der dritten Generation Euro5-fit gemacht und elektronisch aufgewertet. Die großen, analogen Uhren sind für die Ewigkeit.

Name: Suzuki Hayabusa
Preis: 23.990 Euro
Motor: Reihen-Vierzylinder, 1340 ccm
Leistung: 190 PS bei 9700 U/mi
Gewicht: 264 kg
0–100 km/h: 3,2 Sekunden
Vmax: 299 km/h
Verbrauch: 5,7 l/100 km laut Norm

In 7,5 sec von 0 auf 200 km/h. Auch bei der dritten Generation, die 2021 erschien, ist auf den ersten Blick klar, um was für eine gewaltige Maschine es sich handelt. Etwas markanter und schärfer im Design, aber eindeutig Hayabusa. Langgestreckt, ausladend, aerodynamisch, die Verkörperung von schierer Kraft. Dass der komplett neu aufgebaute 1340 ccm große Reihenvierer mit 190 PS etwas weniger Spitzenleistung hat als der Vorgänger, darf als Tribut an die strengere Euro5-Norm verstanden werden und ist kein Grund zur Klage. Abgeregelte 299 km/h sind zwar heute nichts mehr, was für Schlagzeilen sorgt, doch mit einer Beschleunigung von 0 auf 200 km/h in 7,5 Sekunden ist die Hayabusa genauso schnell wie ihre Vorgängerin und degradiert die meisten Fahrzeuge dieser Erde zu am Boden verschraubten Hydranten. Sie ist allerdings kein Technologie-Träger, der den letzten Schrei verkörpert. Zwar gibt es Traction-, Wheelie- und Launchcontrol und selbstverständlich diverse Riding Modes, Tempomat und Speed-Limiter, aber das Fahrwerk ist weder semiaktiv, noch elektronisch verstellbar und auf die Radarausstattung (abstandsabhängiger Geschwindigkeitsregler) wurde ganz normal gehustet, wie man so sagt.

Dieser Verzicht mag vielleicht manchen stören, der immer gleich das neueste Smartphone haben muss, mich aber nicht. Im Gegenteil. Ich ducke mich hinter die Verkleidung, blicke über die wahnsinnig schönen, analogen Uhren auf die Straße vor mir und genieße mit all meinen Sinnen den Ritt auf dem heiser röhrenden, unfassbar kräftigen und doch einfach zu dirigierenden Wanderfalken wie das Beste, das mir je passiert ist. Wenn ich die Macht aus dem großen Hubraum spüre, die bei aller Gewalt auch etwas sehr Sanftes hat, bin ich vollkommen eins mit mir und der Welt.

So gesehen muss klar sein, dass für mich ein Abstandstempomat, den ich als Vorhut für das begleitete Fahren erkenne, in keiner Weise erstrebenswert ist. Je freier sich der Wanderfalke bewegen kann, desto weniger werde ich entmündigt. Artgerechte Haltung muss auch für Menschen gelten.

Naja, jedenfalls bin ich überglücklich, dass Suzuki den Wanderfalken nicht aussterben hat lassen. Er ist eine Ikone des Speeds und wirklich gut zu fahren.

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