Gastkommentar

Die Volksanwaltschaft als Pulsmesser der Nation

(c) Peter Kufner
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45 Jahre. Seit 1977 gibt die Volksanwaltschaft Bürgern das Gefühl, gehört zu werden und sich gegen behördliche Willkür wehren zu können.

Die Autorin

Judith Kohlenberger (* 1986) ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien.

Im August erscheint ihr neues Buch
„Das Fluchtparadox“ (Kremayr & Scheriau). Twitter: @J_Kohlenberger.

Die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt schrieb 1951 in ihrem Exil in den Vereinigten Staaten vom „Recht, Rechte zu haben“ – ein mittlerweile so berühmtes wie missbrauchtes Zitat. Es trifft im Kern das, was Arendt später als „das eine Menschenrecht“ bezeichnen sollte, nämlich die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen, einem Nationalstaat, einem Staatsvolk, auf einer abstrakten Ebene einer gemeinsamen Erzählung und Geschichte. Als Flüchtling aus Nazi-Deutschland blieb ihr und vielen anderen genau das verwehrt.

Zentral dabei sei das „Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören“, und dieses Recht müsse von der Menschheit selbst garantiert werden. Denn die Menschlichkeit jedes Menschen bedingungslos zu bewahren und ins Zentrum jeglichen politischen wie individuellen Handelns zu stellen, immer das „Antlitz des Anderen“ (Zygmunt Bauman) vor sich zu sehen und danach zu handeln, ist eine Aufgabe, an der sich die Menschheit redlich abarbeitet, und grandios scheitert. Es braucht eigentlich keine Pandemie und keinen Krieg in Europa, um zu dieser schmerzhaften Erkenntnis zu gelangen; ein Blick an die EU-Außengrenzen und die dort betriebene systematische Dehumanisierung Ankommender würde schon reichen. (. . .)

Es beginnt mit Einsamkeit

Nicht von ungefähr findet sich Arendts Leitspruch in ihrem Fundamentalwerk „Origins of Totalitarianism“. Sie spürt darin nach, wie Gesellschaften anfällig für totalitäre Tendenzen werden. Nämlich dann, wenn die Einsamkeit überhandnimmt. Wenn der Einzelne sich nicht mehr zugehörig fühlt, als Teil einer Gemeinschaft. Wenn Menschen isoliert sind, ausgegrenzt, ausgeschlossen und abgelehnt, dann öffnet das Tür und Tor für autokratische Tendenzen. Das Gefühl der Zugehörigkeit holen sich die Ausgegrenzten dann bei Radikalisierern, Blendern, bei Autokraten, im falschen Versprechen von Kameradschaft, im kuhwarmen Gefühl des Corps-Geists. Eine freie Demokratie, so Arendt, basiere darauf, dass alle in der offenen Gesellschaft zugehörig sein können, allen ihre Menschlichkeit zugestanden wird.

„Die Erfahrung, nicht zur Welt zu gehören“, schreibt sie, „ist unter den radikalsten und verzweifeltsten Erfahrungen des Menschen.“ Dabei geht es Arendt nicht um das bloße Alleinsein, also darum, nicht unter Menschen zu sein – in einer vernetzten, digitalen Welt, in der wir unsere Freunde immer am Smartphone bei uns tragen, wäre das gar nicht mehr möglich. Dass wir genau jetzt, nicht erst seit Corona, eine Pandemie der Einsamkeit erleben, ist nicht nur der räumlichen, sondern der emotionalen Distanz zwischen uns geschuldet – oder, wie Arendt sagen würde, weil wir nicht mehr „dazugehören“, nicht mehr zueinander gehören. Weil wir von den anderen abgeschnitten sind, ob von Menschen, Ideen oder Institutionen.

Einsamkeit in diesem zutiefst politischen Sinne ist deshalb nicht „Alleinsein“, sondern mitunter von anderen umgeben, mitten in der Gesellschaft, am Ort des Geschehens zu sein, und doch nicht dazuzugehören, keinen Kontakt herstellen zu können oder gar der Feindseligkeit anderer ausgesetzt zu sein. Tiefe, zerstörerische Einsamkeit ist das Gegenteil von Zugehörigkeit.

Zugehörigkeit aber bezieht sich in Arendts Sinn auch auf Institutionen, Behörden und staatliche Strukturen, die diese fördern oder zerstören können. Und in einem wahrlich metaphysischen Sinne geht es auch um eine gemeinsame Erzählung, die Erzählung eines Volkes, eines Landes, in der man einen Platz hat, der man angehört und die sinnstiftend für einen ist.

Und das bringt mich zur zentralen Rolle, die die Volksanwaltschaft erfüllt. Sie stellt genau diese Zugehörigkeit sicher, das Gefühl, gehört zu werden, und das „Recht, Rechte zu haben“. Nicht isoliert und ausgegrenzt zu sein, sondern der eigenen, unveräußerlichen Menschlichkeit versichert zu werden. Gerade im Umgang mit Verwaltung und Bürokratie, wie Arendt mit Blick auf die Verbrechen des Nationalsozialismus beschrieb, gilt es, die Menschlichkeit jedes und jeder Einzelnen ins Zentrum zu stellen. Sie ist es, die uns vor Willkür, Missständen und bewusster Untätigkeit rettet.

Genau das tut die Volksanwaltschaft seit 45 Jahren. Jene vor behördlicher Willkür zu schützen und ihren Zugang zum Recht sicherzustellen, die nicht über die entsprechenden finanziellen Mittel, Bildung und rechtliche Alphabetisierung, den sozioökonomischen Hintergrund, das richtige Elternhaus oder die Herkunft verfügen. Unabhängig davon steht die Volksanwaltschaft allen zur Seite, die von österreichischen Behörden nicht gerecht behandelt wurden, vielleicht sogar misshandelt wurden. Denen, im Sinne Arendts, ihre Menschlichkeit abgesprochen wurde. Denn genau das hatte sie im Sinn: nicht das abstrakte Zugeständnis von Recht, sondern die Garantie, dieses einzufordern und zugestanden zu bekommen. Für diese Garantie steht die Volksanwaltschaft seit nunmehr 45 Jahren.

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