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Das ist die Renaissance des Wissensmanagements

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Wir sind im Zeitalter der Wissensökonomie, sagt Sandra Becker von Deloitte. Innovation und Technologie sind die wichtigsten Treiber und zwingen Unternehmen, permanent in Bewegung zu bleiben.

Sandra Becker

Frau Becker, was verbindet Sie mit Wissensmanagement?

Sandra Becker: Als Consultant ging es aus interner Sicht schon immer darum: Wie sichern wir eigentlich unser relevantes Wissen, was unseren Kunden hilft, sich im Markt zu positionieren? Ich habe schon in den Nullerjahren Projekte als Beraterin zum Thema Wissensmanagement gemacht. Das war noch zu Zeiten der alten, klassischen Content-Management-Systeme, als das noch eine ganz andere Definition war. Ich habe also die Brücke geschlagen von der alten Wissensmanagement-Zeit hin zu den aktuellen Themen. 

Was hat sich seitdem getan?

Eigentlich hat sich alles geändert. Früher war das tatsächlich ein reines Ablage-Thema. Da ging es um die Dokumentation, die ist wichtig, die muss ich irgendwo speichern und dann über eine Suchmaschine oder Mail-Abfrage wiederfinden. Die Frage war: Wie kann ich das, was in den Köpfen der Leute ist oder was den Ablauf einer Maschine beschreibt, festhalten? Es wurde eben das dokumentiert, was schon stattgefunden hat. Heute ist das komplett anders. Es geht um Knowledge Capture – also das Erfassen von Wissen – bis hin zur Analyse. Nicht das bloße wiederholte Ablegen spielt eine Rolle, sondern die neuen Erkenntnisse, die man aus der Analyse ziehen kann. Daraus ergibt sich eine Wertsteigerung und das ist der springende Punkt. Wie bringe ich zwei Leute oder zwei Themen zusammen und gestalte dabei etwas Neues? Das ist ein kompletter Shift in den Paradigmen des Wissensmanagements.

Wie findet diese Wertsteigerung in der Realität statt?

Zuerst müssen einige Fragen beantwortet werden. Welche Art von Wissen wird gesammelt? Was ist mein Business? Wie die strategische Ausrichtung? Was brauche ich für mein Geschäft und was ist im Unternehmen vorhanden? Und heute geht es sehr stark darum: Was kommt denn von extern rein und wie gehe ich damit um? Es ist nicht nur das interne Wissen, sondern immer die Kombination mit der Außenwelt. Ein Beispiel aus der Beratung wäre, dass man ein Projekt abschließt, man hat dort etwas analysiert, Erkenntnisse gewonnen und dem Kunden einen Endbericht gegeben. Den könnte man jetzt einfach ablegen und sagen: Vielleicht findet irgendwo noch mal ein ähnliches Projekt statt und dann kann man das wieder herausholen und nutzen. In der heutigen Zeit ist es aber ganz selten, dass etwas genauso wieder stattfindet. Jetzt geht es viel stärker darum, über den Prozess zu lernen und daraus neue Werte zu entwickeln, Neues zu gestalten. Die Erkenntnisse sind dann oft allgemeiner und können auch von anderen eingesetzt werden. Da entsteht ein Mehrwert.

Erkenntnisse laufen also mittlerweile sehr bald ab, weil sich alles so schnell verändert?

Wir sind jetzt im Zeitalter der Wissensökonomie und alles funktioniert ein bisschen anders. Innovation und Technologie sind die wichtigsten Treiber und zwingen Unternehmen dazu, permanent in Bewegung zu bleiben. Außerdem arbeiten wir in Teilzeit, hybrid, global. Die Leute wechseln ihre Jobs viel häufiger. Es gibt zwar weiterhin die klassischen Abläufe innerhalb von Unternehmen und auch die haben noch Bedeutung. Zum Beispiel, wenn sich Kunden beschweren im Callcenter oder man ein Produktdatenblatt braucht, das ist alles noch da. Aber der Innovationsdruck ist hoch und es gibt eben noch Potenzial zum Optimieren, das ist spannend. Man muss sich immer vorwärtsbewegen.

Umfragen zeigen, dass zwar viele Unternehmen das Thema Wissensmanagement als Priorität erkennen, sich aber nur wenige imstande sehen, Handlungen zu setzen. Woher kommt diese Zurückhaltung?

Ja, da gibt es eine große Kluft. In einer Studie haben 70 Prozent der Unternehmen gesagt, dass Wissensmanagement wichtig ist und nur neun Prozent, dass sie sich bereit fühlen. Das Thema wurde auch 20 Jahre lang quasi ignoriert und erst jetzt wiederentdeckt. Unternehmen merken, dass etwas passiert und es ihnen entgleitet, weil sie sich so lang nicht mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Die sehen jetzt, dass es all diese tollen neuen Technologien gibt, die ganz viel können und merken aber: Das Implementieren von solchen Technologien an sich ändert überhaupt nichts und löst auch nichts. Die Leute hatten das nicht auf dem Schirm. Das Management von Wissen wurde oft in IT-Abteilungen ausgelagert. Dabei ist es aber Teil der täglichen Arbeit. Man muss das strategisch angehen und herausarbeiten, was das „bessere“ Wissen ist und wo der Schmerz sitzt. Daher wissen viele auch nicht, wo sie überhaupt anfangen sollen. 

Wenn man sich 20 Jahre lang nicht mit Wissensmanagement auseinandersetzt – kann man das bei dem hohen technologischen Tempo heute überhaupt noch aufholen?

Da gibt es viele Missverständnisse. Manche nehmen einfach das, was sie noch aus der alten Zeit wissen und transferieren es auf eine neue Technologie. Das klappt logischerweise nicht. Nachweislich funktioniert Wissensmanagement dort gut, wo es das Management propagiert und sagt: Wir achten darauf. Wir geben euch die Zeit dafür, Wissen zu teilen. Es ist ein Unternehmenswert. Unsere Studien haben ergeben, dass Mitarbeiter in solchen Firmen die Qualität des Wissens als höher einschätzen, dass sie schneller Dinge finden und Vertrauen haben. Das ist der Faktor Mensch. Wir reden zum Großteil über das implizite Wissen, das in unser aller Köpfe steckt. Aber wann ist man auch bereit, das Wissen abzugeben, zu teilen und daraus einen Mehrwert zu generieren? Das funktioniert nur, wenn man die Sicherheit hat, dass damit gut umgegangen wird. Es geht also um die Kultur, lang bevor wir überhaupt mit der Technologie anfangen. Ob die dann künstliche Intelligenz kann oder Spracherkennung oder nur eine gute Suchmaschine ist – das ist alles gar nicht so wichtig. Ich muss mich als Mensch und Mitarbeiter erst einmal sicher fühlen. 

Wie funktioniert das in der Praxis?

Im Consulting haben wir bei unseren Projekten zum Beispiel immer Verantwortliche, die sicherstellen, dass die richtigen Inhalte geteilt werden und die Leute ihre Expertisen ergänzen. Das ist mittlerweile Teil des ganz normalen Arbeitens. Das funktioniert aber nur, wenn es gewünscht und anerkannt wird. Dann kann man die aktuellen Technologie nehmen und da ist wirklich sehr viel möglich. Gerade mit der Analyse von Wissen in Unternehmen lassen sich strategische Schlüsse ziehen. Man kann etwa Skills identifizieren, daraus Profile erstellen und analysieren, wo es Defizite im Team gibt, wenn Mitarbeiter das Unternehmen verlassen. Das macht auch ersichtlich, wo sich Expertise konzentriert und wo Netzwerke entstehen. Wenn Unternehmen lernen, mit diesen Daten gut umzugehen, führt es zu einem großen Mehrwert. 

Und welche Voraussetzungen braucht es dafür?

Mir fällt sofort der Begriff „Super Team“ ein. Das Konzept ist stark mit agilen Arbeitsmethoden verknüpft. Dabei werden immer projektbezogen oder situationsbezogen Skills kombiniert und sämtliche Hierarchien aufgelöst – wobei das nicht immer so radikal geschehen muss. Da wird Knowledge Management spannend, weil man die richtigen Leute zusammensetzt und den Austausch ermöglicht. Dann interessiert es mich natürlich, welche Ideen diese Teams kreieren und wie das Wissen zurückgespielt wird. Da geht es nicht darum, Word-Dokumente abzulegen. Wichtiger ist es, Profile zu erstellen, die auf eine Expertise schließen lassen. Wenn ich sehe, dass jemand schon drei Mal Teil von einem Super Team war zu einem bestimmten Thema, dann macht es Sinn, diese Person dazu anzusprechen. Man kann über die Zeit erkennen, wie sich jemand entwickelt und seine Expertise aufgebaut hat. Man stellt sich also die Frage: Was macht Experten überhaupt zu Experten? 

Es gibt zwar viele neue Technologien, aber gleichzeitig steigt die Informationsflut an. Wie können Unternehmen da Schritt halten?

Da ist eine der größten Herausforderungen. Eine Studie hat gezeigt, dass fast 55 Prozent der internen Datenströme nicht genutzt werden. Natürlich kann man hinterfragen, ob man das alles verwenden muss. Für mich geht es stark darum, zu analysieren und zu verstehen, welche Informationen die neuen Technologien ausspucken. Ich kann eine Skill-Gap-Analyse machen, untersuchen, wer wo auf Daten zugreift, welche Experten, Cluster und Netzwerke ich habe. Daraus lässt sich zum Beispiel schließen, ob das meiner Innovationskraft nutzt oder ob ich mein Recruiting umstellen muss. Beim Thema Big Data wurde bereits früh angefangen, nach außen hin zu analysieren. Bei Knowledge Management geht es wieder stärker darum, den Blick nach innen zu richten und das intern zu machen. Die Kunst ist es, das Wissen in den Kontext des jeweiligen Unternehmens zu setzen. Das ist eine neue Art zu denken. Es geht darum, herauszufinden, welche Informationen überhaupt nützlich sind – und das ist sehr individuell. Natürlich gibt es auch Gegenstimmen, die sagen: Man kippt einfach alles in ein System und der Nutzer entscheidet, was wichtig ist. Man muss eben immer wieder neu hinterfragen, was zu einem passt. 

In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Arbeitswelt sehr stark verändert, befeuert durch die Coronapandemie. Wie wirkt sich das auf Wissensmanagement aus?

Die Pandemie ist ein Treiber, der das Thema wieder auf die Agenda gebracht hat. Man muss von dem Verwalten von Wissen weggehen und aufdecken, wo die Expertise steckt, wo sich Cluster bilden, wie Informationen fließen. Es muss nicht immer alles irgendwo dokumentiert sein. Es geht darum, dass Austausch stattfinden kann. Viele Unternehmen haben durch die Pandemie bemerkt, dass sie da riesige Defizite haben. Dass man den Austausch nicht einer kleinen, separaten IT-Abteilung überlassen kann, sondern das in die täglichen Abläufe integrieren muss. Das ist die Renaissance des Wissensmanagement. 

Sie haben es bereits angesprochen: Vertrauen ist beim Wissensmanagement ausschlaggebend. Wenn Mitarbeiter das Gefühl haben, dass alles gespeichert und analysiert wird, was sie von sich geben – besteht dann die Gefahr, dass die Privatsphäre und das Vertrauen auf der Strecke bleiben?

Das klingt schon fast ein bisschen dystopisch! In der Theorie können natürlich Systeme zum Einsatz kommen, die E-Mails mitlesen oder Präsentationen automatisch verschlagworten. In der Realität ist das durch den Datenschutz und arbeitsrechtlich klar reguliert. Als Unternehmen würde man sich auch keinen Gefallen damit tun, das alles aufzunehmen und zu analysieren. Man muss aus den ganzen Infos etwas machen und ich glaube, man würde den Fokus verlieren, wenn es keine Prioritäten gäbe. Technologisch ist vieles möglich, aber nicht alles macht Sinn. Es geht eben darum, zu definieren, welche Informationen gesammelt und welche geteilt werden sollen. Erst dann wird es Unterstützung dafür geben. Sandra Becker ist Senior Manager beim Beratungsunternehmen Deloitte in Frankfurt und unterstützt vor allem Projekte mit Großkunden in ihrer Rolle als Priority Client Program Leader. Sie hat mehr als neun Jahre Beratungserfahrung als Managerin für Strategie, Vertrieb, Marketing und Wissensmanagement bei großen Unternehmen in der deutschen Automobilindustrie. Zwischen 2015 und 2021 war Becker für das nationale, geschäftsübergreifende Wissensmanagement bei Deloitte in Deutschland verantwortlich.

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