Morgenglosse

Hungaroflix für Orbáns Welt von vorgestern

Symbolbild: Netflix
Symbolbild: Netflix(c) Reuters
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Zwei küssende Teenager-Mädchen in einer Zeichentrickserie offenbaren die Groteskerie von Ungarns Gesetz gegen sexuelle Minderheiten.

Budapest oder Teheran? Man weiß auf den ersten Blick nicht sofort, woher die Nachricht rührt, eine nationale Medienaufsichtsbehörde habe Ermittlungen gegen das US-Medienunternehmen Netflix eingeleitet, weil in einer Zeichentrickserie zwei Mädchen im Teenageralter einander die Liebe gestehen und sich küssen. Gut, öffentliche Auspeitschungen oder Dunkelhaft in einer Einzelzelle am Plattensee wird es für den Netflix-Vorstand nicht hageln; der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ist schließlich, wie er vor einigen Wochen verkündete, quasi die menschgewordene letzte Bastion des Westens gegen allerlei orientalische Übel.

Und außerdem weiß er wohl, wie unwahrscheinlich es ist, dass sich der milliardenschwere Unterhaltungsriese aus Kalifornien selbst zensiert, bloß um im winzigen ungarischen Markt präsent zu bleiben. Eher wäre es im Fall einer Verurteilung durch die ungarische Medienbehörde so, dass Netflix für seine ungarischen Kunden nicht mehr empfangbar ist.

Der Anlass für diese Ermittlungen wegen eines Busserls zweier adoleszenter Zeichentrickfiguren gleichen Geschlechts ist freilich ernst. Das ungarische Gesetz gegen sexuelle Minderheiten, von Orbáns Regierung pharisäerhaft als Maßnahme zum Schutz der Familien und vor allem der Kinder vor geschlechtlichem Missbrauch bezeichnet, macht jungen Ungarn, die nicht zur heterosexuellen Mehrheit zählen, den Alltag noch schwerer, als er selbst in offenen, liberalen Gesellschaften schon ist. Zur Erinnerung: Jugendliche Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle sowie sonstwie nicht zum Mainstream Gehörige neigen signifikant öfter zu klinischen Depressionen, ihre Selbstmordraten sind erschütternd.

Wieso man diesen jungen Menschen das Leben zur Hölle machen, sie stigmatisieren muss, statt ihnen die Hand zu reichen und sie vor Missbrauch und Gewalt zu schützen, sollte Herr Orbán einmal kraft all seiner angeblichen christlichen Barmherzigkeit erklären, auf die er sich so gerne beruft. Und wie soll es Kinder vor echtem sexuellem Missbrauch schützen, wenn man ihnen eine Scheinwelt vorgaukelt, in der es nur Heterosexualität gibt? Vielleicht sollte sich die ungarische Regierung eher darüber Gedanken machen, dass nur in Rumänien und Italien mehr Menschen als in Ungarn die Grundannahme der Story von „Jurassic Park Camp Cretaceous“ für bare Münze nehmen: dass nämlich Menschen und Saurier irgendwann zur selben Zeit auf Erden koexistiert haben. Das offenbarte voriges Jahr eine Eurobarometer-Umfrage in allen EU-Mitgliedstaaten.

Deutlich wird einmal mehr, wie schwer sich Orbáns nationalautoritäre Bewegung mit der Gegenwart tut. Er mag die staatlichen und die von Günstlingen kontrollierten privaten Medien gleichschalten, die letzten freien Radiosender und Zeitungen behördlich schließen lassen - ja, vielleicht brütet ein orbánistischer Propagandist bereits über dem Projekt eines Hungaroflix mit garantiert volkstreuen und züchtigen Inhalten: es hilft nichts. In einer freien Welt lassen sich die Gedanken und Interessen nicht einhegen. Daran sollte sich Viktor Orbán, dieses ehemalige Mitglied der Liberalen Internationalen, beizeiten erinnern.

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