Reggae-Geschichte

Kulturelles Reinheitsgebot gegen Dreadlocks?

Als Straßenmusiker in Wien: Mario Parizek, 2018 in der U-Bahn-Station Westbahnhof.
Als Straßenmusiker in Wien: Mario Parizek, 2018 in der U-Bahn-Station Westbahnhof.Stefan Fürtbauer / picturedesk.com
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Diesmal war es ein Tiroler Gitarrist in Zürich: Schon wieder wurde ein Mensch von einer Bühne gewiesen, weil er Rastalocken trägt. Das sei kulturelle Aneignung. Doch solche hat die Popmusik seit jeher geprägt.

Natty Dread“ hieß 1974 ein Song von Bob Marley, dem bis heute populärsten Reggae-Musiker: Natty ist eine Verballhornung von „natural“, „dread“ steht für „dreadlocks“, das sind kunstvoll verfilzte Haare. Rastas tragen solche Frisuren, sie kommen aus Jamaika, spielen Reggae und rauchen Ganja, Marihuana: Wer in den Siebzigerjahren jung war, zu dessen popkultureller Sozialisation zählte dieses Wissen. Manchmal ergänzt durch weiterführende Information über die stark vom Alten Testament inspirierte Religion der Rastafaris, die Äthiopien als ihr Mutterland sahen und Jamaika als ihr Exil, ihr Babylon.

Reggae in Allianz mit Disco und Punk

„Rivers of Babylon“ hieß darum ein alter Reggae-Song, der 1978 in der Version der deutschen Disco-Band Boney M. zum Hit wurde. Würde man das heute als kulturelle Aneignung tadeln? Finanzielle Ausbeutung war es nicht: Im Gegensatz zu Rockbands wie den Stones oder Led Zeppelin, die anfangs gern vergaßen, die Komponisten von Bluesstücken zu nennen, gaben Boney M. die Autoren an: zwei Musiker der jamaikanischen Band Melodians. Dass diese aus dem Psalm 137 zitiert hatten, hatte keine Folgen: Dessen Autor hat keine Ansprüche mehr . . .

Ungefähr zur selben Zeit wie Boney M. näherte sich ein anderer, damals ganz frischer Zweig der Jugendkultur dem Reggae an: der Punk. Es war schon 1977 üblich, dass vor und nach Punkkonzerten die DJs Reggae auflegten, und so manche Punkband nahm einen Reggae ins Repertoire, was bisweilen etwas holprig klang. Etwa bei den Clash, die „Police & Thieves“, ein Lied des jamaikanischen Reggae-Musikers Junior Murvin, interpretierten. Ebenfalls auf ihrem ersten Album war ihr Song „White Riot“, in dem sie konzedierten, „black men got a lot of problems“, aber erklärten, dass sie als Weiße „ihren eigenen Aufstand“ wollten. Ziemlich naiv, wurde auch damals entsprechend debattiert. Viel später erst kam in die Pop-Feuilletons, dass die authentische Rastafari-Kultur in ihrer angestammten Heimat auch weniger sympathische Seiten hatte: eine Tendenz zur Frauenverachtung und Schwulenfeindlichkeit etwa.

Das Bekenntnis des Keith Richards

Reggae war jedenfalls sehr bald in den multiethnischen, multikulturellen Mix integriert, der Popmusik seit jeher ausmacht. Die Rolling Stones, stets offen für kulturelle Aneignung, nahmen schon 1975 einen Reggae, „Cherry Oh Baby“, auf ihr Album „Black And Blue“. Vorgeschlagen hatte ihn der damals neue Ron Wood, selbst aus einer Roma-Familie stammend, doch sein Kollege Keith Richards hatte dafür wärmstes Verständnis. Reggae sei „so natural“, sagte er einmal im Interview, er schätze ihn mehr als Rock, dieser sei die „Version des weißen Mannes“ des Rock 'n' Roll und klinge leider oft nach einem Marsch.

Wer war der erste nicht jamaikanische Popmusiker, der Dreadlocks trug? Man kann nur spekulieren: Es könnte die deutsche Sängerin Ariane Forster gewesen sein, Enkelin von Franz Karl Maier, Eigentümer der Zeitung „Der Tagesspiegel“. Unter dem Namen Ari Up gründete sie 1977 in London die rein weibliche Punkband The Slits. Ihre Mutter heiratete im Jahr darauf John Lydon, Sänger der Sex Pistols, ebenfalls großer Reggae-Fan.

Genug aus der Urgeschichte. Oder zählt zu dieser auch Hans Söllner, 1955 in Bad Reichenhall geboren? Er trägt Dreadlocks, spielt, ebenfalls seit mehr als vier Jahrzehnten, „bayrischen Reggae“, wie er sagt. Und er ist bekennender Rastafari. Eine besonders listige Form der Appropriation? Muss man ein Credo ablegen, um die Frisur zu tragen?

Viele tun's nicht. Wir kennen brave katholische Lehrerinnen und Hausmänner, deren Kinder sich nicht einmal für die Rastafrisur ihrer Eltern genieren, so tolerant kann die heutige Jugend sein. Es gibt sogar Musiker, die Dreadlocks tragen, obwohl sie gar nicht hauptsächlich Reggae spielen! Mario Parizek etwa, ein gebürtiger Tiroler, der 2018 als Straßenmusiker in Wien wirkte. Seine Spezialität ist es, den Korpus der Gitarre als Rhythmusinstrument zu verwenden. Nicht nur für Reggae-Beats.

Am Dienstag war er in der Züricher Bar Das Gleis angekündigt, die auf ihrer Homepage erklärt, sie bemühe sich, „ein möglichst vielfältiges und zugängliches Kulturangebot auf die Beine zu stellen“. Doch Parizeks Auftritt wurde abgesagt. Begründung laut Das Gleis: „Unwohlsein von unseren Mitmenschen“ mit der Frisur Parizeks. Dieser ist entsetzt: Er habe sich die Dreadlocks als Jugendlicher zugelegt, um sich von den „Rechten“ in seinem Heimatdorf zu distanzieren. Und nun werde er aus der „linken Ecke“ dafür diskreditiert.

Immer wieder „Unwohlsein“

Es ist schon der dritte Fall heuer: Im März wurde die weiße Sängerin Ronja Maltzahn, die in Hannover bei einem Konzert von Fridays for Future auftreten hätte sollen, wegen ihrer Dreadlocks ausgeladen. Im Juli wurde in Bern das Konzert der Band Lauwarm abgebrochen, weil weiße Musiker Dreadlocks und afrikanische Kleidung trugen und Reggae spielten. Die Begründung war in beiden Fällen „Unwohlsein“ wegen kultureller Aneignung.

Immerhin sind Dreadlocks recht gut zu identifizieren. Schwieriger wird diese Form von kulturellem Purismus bei einer anderen Frisur, die ebenfalls in der Ära des Punk aufkam: dem von amerikanischen Indigenen inspirierten „Irokesen“, auf Englisch „mohawk“ genannt. Man wird klären müssen: Wie hoch müssen die härenen Stacheln sein, um Unwohlsein im Betrachter auszulösen?

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Die Dreadlocks des Musikers Mario Parizek sorgten im Vorfeld für „Unwohlsein“, wie es heißt. Parizek selbst fühlt sich missverstanden.

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