Zwischen Bobostan und Hietzing: Was heißt hier bürgerlich?

Marcus Franz irrt: Die bürgerlichen Werte sind keineswegs ausgestorben. Sie gedeihen prächtig. Bloß muss man sie woanders suchen als im Hietzinger Traditionscafé. Eher auf dem Ottakringer Yppenplatz.

Marcus Franz, Gastkommentator auf diesen Seiten, macht sich Sorgen. „Wirtschaftsliberalität, Freiheit des Einzelnen, Leistungswille, Selbstverantwortung, Pflichtbewusstsein, Intellektualität, Familiensinn, Anstand und klare kulturelle Orientierung“ zählt er als Charakteristika einer bürgerlichen Gesinnung auf. Lauter starke, wunderbare Begriffe. Doch Franz ist traurig. Niemand, klagt er, wolle sich mehr zu ihnen bekennen. Weil sie, „im Zeitalter der politisch korrekt propagierten Gleichheit“ anstößig klängen, „verstaubt und gar nicht cool“.

Aber nein, Herr Primar, möchte man ihm zurufen, keine Sorge! Den bürgerlichen Werten geht es ausgezeichnet! Kann es vielleicht sein, dass Sie in den falschen Ecken der Gesellschaft nach ihnen suchen? Oder dass Sie sie nicht erkennen, wenn Sie an ihnen vorübergehen?

Beginnen wir bei den ökonomischen Aspekten des Bürgerbegriffs – Wirtschaftsliberalität, Leistungswillen, Selbstverantwortung. Sie spielen eine große Rolle im Alltag all jener Menschen, die in ungeschützten Bereichen der Arbeitswelt ihren Lebensunterhalt verdienen. Aber wer sind diese Leute, und wo findet man sie? Ich behaupte: Im Hietzinger Café Dommayer sitzen sie weniger zahlreich als am Ottakringer Yppenplatz. Die freiberufliche Grafikerin verkörpert Leistungswillen definitiv besser als die Hofratswitwe. Und dem Möbeldesigner weht die Liberalität des Marktes frischer um die Ohren als dem alteingesessenen Herrn Notar.

Ein Paradox traditioneller Bürger ist ja, dass sie gern von Eigenverantwortung reden, sich aber doch ganz gern unter die wärmenden Fittiche des Staates kuscheln, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Am besten zu beobachten ist das bei den bürgerlichen Beamten. Aber auch überall dort, wo Gesetze, Kammern und Gewerbeordnungen dazu benützt werden, privilegierte bürgerliche Gruppen vor zu viel Konkurrenz zu schützen. Insbesondere vor neuen Selbstständigen und Ich-AGs.

Weiter zu „Intellektualität“ und „kultureller Orientierung“: Aber ja, Herr Franz, alles da, wenn Sie nicht bloß Grillparzer, sondern auch Schlingensief mitzählen. „Familiensinn?“ Ebenfalls. Wohl noch nie in der Geschichte hat sich eine Generation (über-)eifriger um das Wohlergehen ihrer Kinder gekümmert als heute die Bobos. Bürgerlich gekocht wird in diesen Familien ohnehin längst – mit ein bisschen weniger Mayonnaise vielleicht, und ein bisschen mehr Balsamico.


Womit das Wort „Bobos“ endlich ausgesprochen wäre. Und wir beim heikelsten Teil des Franz'schen Manifests angelangt sind – dem Ruf nach „Pflichtbewusstsein“ und „Anstand“. Ja, auch diese Tugenden gibt es noch. Sie stecken halt in anderen Gewändern als vor hundert Jahren. Anstand kann zum Beispiel heißen: nicht nur nach dem eigenen Vorteil zu handeln, sondern auch drauf zu schauen, dass die Putzfrau über die Runden kommt. Dem türkischen Greißler mit Respekt zu begegnen, statt ihn zu verachten. Pflichtbewusstsein kann sich zeigen, indem man Müll vermeidet. Mit der Bahn fährt. Biohühner kauft. Oder in der Nachbarschaft anpackt, wenn es notwendig ist.

Man kann diesen Lebensstil „Gutmenschentum“, „politische Korrektheit“, „linkes Moralisieren“ oder „soziale Verhätschelung“ nennen, wie Bürger Franz es tut. Man könnte ihn aber auch als unausrottbare Kontinuität bürgerlicher Werte erkennen.

Seltsam eigentlich, dass Traditionsbürger darauf so selten stolz sind.


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Zur Autorin:

Sibylle Hamann ist Journalistin in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2010)

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