Maschinen von Menschen für Menschen

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Der Mensch soll in der Industrie 5.0 im Mittelpunkt stehen, aller Automatisierung zum Trotz. Die Roboterrevolution ist nicht abgesagt, sie kommt nur anders.

Geht es nach dem Philosophen, Publizisten und Schriftsteller Richard David Precht, steht die Menschheit vor einem gewaltigen Umbruch: „Wir treten gerade in ein neues Zeitalter ein, ich nenne es das zweite Maschinenzeitalter. Das erste Maschinenzeitalter zu Zeiten der Dampfmaschine war dadurch geprägt, dass die menschliche Hand durch Maschinen ersetzt wurde. Beim zweiten Maschinenzeitalter, in dem wir uns heute befinden, wird das menschliche Gehirn durch Maschinen mit künstlicher Intelligenz ersetzt, zumindest in vielen Funktionen und Anwendungsbereichen.“ Nachdem die Art, wie Menschen produzieren, die Kultur und Struktur einer Gesellschaft kennzeichnen, werde diese Transformation gewaltige Konsequenzen haben.

Freiheit für die „Worker“

In seinem jüngsten Buch, „Freiheit für alle: Das Ende der Arbeit wie wir sie kannten“, thematisiert Precht die Frage nach dem Sinn von Arbeit. Sie bekommt nach seiner Überzeugung eine neue Bedeutung und mutiert zum positiv konnotierten Begriff Work. Wurde Arbeit früher als Mühe empfunden, die man sich nur in den seltensten Fällen aussuchen konnte, so steht Work nunmehr für etwas frei Gewähltes, das man gern tun möchte, das erfüllen kann, das stolz und glücklich machen soll. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten die jüngsten Entwicklungen digitaler Technologien: „Wenn immer intelligentere Maschinen die sich ewig wiederholenden Routinearbeiten übernehmen, bleibt dem Worker die Freiheit, in seinem Tun den Sinn zu finden.“ Precht traut der Digitalisierung und Automatisierung der Wirtschaftswelt zu, den Übergang zur sogenannten Sinngesellschaft zu beschleunigen, die den Menschen in Richtung Selbstverwirklichung und Freiheit führt.

Digitalisierung als Schritt zu mehr Freiheit

Dieser These kann auch Helmut Fallman einiges abgewinnen, Gründer und CEO des Linzer Softwareunternehmens Fabasoft. In einem Expertengespräch mit Precht in der Wiener Aula der Wissenschaften hielt der Geschäftsmann fest: „Ich erlebe Digitalisierung als einen Schritt zu mehr Freiheit – sei es die Freiheit, im Home-Office arbeiten zu können, die Freiheit für Menschen mit Behinderungen, sich in barrierefreien digitalen Welten bewegen zu können, oder den Freiheitsgewinn, der darin besteht, dass nahezu jeder, unabhängig von seiner sozialen Klasse und seinem Einkommen, Zugang zu Wissen hat.“ Ein realistischer Schritt zu einer sinnvollen Digitalisierung ist für Fallmann, die Automatisierung voranzutreiben. Seine Vision der Welt in 20 Jahren: „Ich erwarte mir eine Welt, in der – abgesehen von kleinen analogen Inseln – das Privat- und Berufsleben vollständig durchdigitalisiert ist und dies den Menschen zum Vorteil gereicht.“ Die von Precht angesprochene Sinngesellschaft interpretiert Fallmann als ein von der Digitalisierung getriebenes Ökosystem, in dem Unternehmen für die Gesellschaft und die Ökologie etwas Gutes tun und nicht ausschließlich auf wirtschaftliche Ziele und Kundenwünsche fokussiert sind.

Der menschenzentrierte Zugang

Spätestens hier decken sich die Ideen eines Philosophen und eines Softwareexperten mit den Konzepten jener, die – so der Wortlaut in den EU-Papers zum Thema Industrie 5.0 – von „Menschenzentrierung“ in einer neu heranbrechenden Industrieepoche sprechen. Gänzlich neu ist dieser Ansatz auf europäischer Ebene dabei nicht. Die Europäische Union hat in den letzten Jahren bereits in mehreren digitalaffinen Bereichen eine auf den Menschen ausgerichtete Richtung gewählt – etwa im „Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz“, in dem die Grundsätze für eine mögliche KI-Regulierung und Schutzvorkehrungen für die Nutzer von KI-Technologien festgehalten werden.

In die Stärken der Arbeitnehmer investieren

In der Industrie scheint der menschenzentrierte Zugang freilich noch ausbaufähig zu sein. Um sicherzustellen, dass sowohl die Unternehmen als auch die Arbeitnehmer vom digitalen Wandel und Automatisierung profitieren, müssen Geschäftsmodelle überdacht und umgestaltet werden. Unternehmer sollten nach Dafürhalten der EU-Strategen nicht nur in Technologien investieren, sondern auch in die Stärken der Arbeitnehmer. Eine Entwicklung, die Letztere außen vor lässt, ist nicht erstrebenswert. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Ausbildung der Arbeitskräfte zu. „Bildung, Ausbildung, Umschulung und Höherqualifizierung gehören sicherlich zu den dringlichsten Themen, die bei der Bewältigung des digitalen Wandels in der Industrie angegangen werden müssen, da qualifiziertes Humankapital von größter Bedeutung ist, um den Wandel zu verwirklichen. Die Forschung sollte diesen Prozess begleiten, indem sie auf der Grundlage breiter Trends in der Gesellschaft und auf den Arbeitsmärkten Qualifikationswissen bereitstellt“, heißt es in einem jüngsten Paper der EU-Kommission. Eine Reihe von politischen Initiativen sind in der EU-Qualifikationsagenda bereits vorgesehen. So umreißt etwa der aktualisierte Aktionsplan für digitale Bildung (2021–2027) die Vision der Europäischen Kommission für hochwertige, integrative und zugängliche Bildungs- und Ausbildungssysteme, die für das digitale Zeitalter geeignet sind. Die beiden Prioritäten des Aktionsplans zielen darauf ab, die Entwicklung eines leistungsstarken digitalen Bildungsökosystems zu fördern und die digitalen Fähigkeiten und Kompetenzen für den digitalen Wandel zu verbessern.

Grundvoraussetzung für den Übergang zur Industrie 5.0

Als Grundvoraussetzung für den Übergang zur Industrie 5.0 wird also davon ausgegangen, dass künftig die Technologie dem qualifizierten Menschen dient. Im industriellen Kontext bedeutet dies eine teilweise Abkehr von der Praxis, dass sich Arbeitnehmer fortlaufend an die sich ständig weiterentwickelnde Technologie anpassen müssen. Das Arbeitsumfeld soll nach europäischer Vorstellung integrativer werden, Arbeitskräfte gilt es in die Gestaltung und den Einsatz neuer industrieller Technologien miteinzubeziehen. Die Zukunftsblockbuster Robotik und KI stellen dabei keine Ausnahmebereiche dar. Im Gegenteil: Genau in diesem Feld wird das festgemacht, was als Übergang von Industrie 4.0 zu Industrie 5.0 kennzeichnend ist: Die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine – als Gegenkonzept zum Trend, den Menschen ungefragt Maschinen einfach nur vor die Nase zu setzen.

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