Es gibt gegenüber Mühseligkeiten immer weniger Toleranz

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Für die Industrie standen lange Zeit Digitalisierung und effizienteres Arbeiten im Mittelpunkt – der Faktor Mensch wurde getrennt davon betrachtet. Wie Unternehmen ihre Belegschaft stärker einbinden und Jobs mit Technologie attraktiver machen können, erklärt Anna Nowshad, Consultant und Partner bei Deloitte Austria.

Was verstehen Sie unter Industrie 5.0?

Anna Nowshad: Für Unternehmen gibt es meiner Erfahrung nach sehr unterschiedliche Definitionen, oft wird der Begriff aber in Zusammenhang mit Nachhaltigkeit gedacht. Dabei geht es vor allem um die Fragen, wie Produkte nachhaltig hergestellt werden können und was man eigentlich verkaufen will. Zukunftsfit zu sein, das ist sicher für alle ein Thema. Traditionelle Branchen, vor allem in der Produktion, sind da oft noch in den gewohnten Gewässern unterwegs. Die meisten wissen, dass das Thema Industrie 5.0 noch auf sie zukommt. Aber die Nähe zur Zukunft ist dabei sehr unterschiedlich.

©Fabian Graber

Anna Nowshad ist Partner bei   Deloitte Consulting und leitet die Bereiche „Future of Work“, „Workforce Transformation“ und „Change Management“ bei Deloitte Österreich. Sie ist spezialisiert auf strategische Personal- und Kompetenzplanung, digitale Transformationen, Personalstrategie und Talentmanagement sowie Führungs- und Kulturwandel.Wie können Unternehmen mit diesem Paradigmenwechsel zurechtkommen?

Es geht vor allem darum, neue Skills zu lernen. Bei vielen Betrieben wird zuerst die Frage aufkommen, wie es um die „Digital Literacy“ in der Belegschaft steht. Also wie man es schafft, dass die Grundbegriffe der digitalen Welt erlernt werden und ein Bezug dazu entsteht. Wichtig ist auch, mögliche Ängste zu nehmen – etwa, dass Digitalisierung zwangsweise mit Rationalisierung und Jobverlusten einhergeht. Wie nehme ich die Menschen auf diese Reise mit? Nämlich auch die, die in ihrem Beruf bisher noch wenig mit Digitalisierung zu tun hatten. Diese Mitarbeiter muss ich anders erreichen als jene, die da schon kompetent sind oder dem Thema zumindest sehr offen gegenüberstehen. Im Endeffekt geht es um ein effizientes Zusammenspiel von Mensch und Maschine.

Die Prämisse, dass Technologie vor allem dem Menschen dienen soll und nicht umgekehrt, ist ja ein Grundpfeiler beim Konzept von Industrie 5.0. Der Faktor Mensch soll wieder mehr in den Fokus rücken. Wurde darauf in der Vergangenheit zu wenig geachtet?

Ich denke nicht, dass dieser Ansatz auf der Strecke geblieben ist. Menschen und Technologie wurden aber sehr lange Zeit getrennt voneinander betrachtet. Ein Teil des Unternehmens, oft die Produktion, hat sich sehr stark auf Technologie und Digitalisierung fokussiert. Der Faktor Mensch wurde eher den HR-Abteilungen und den Führungskräften überlassen – verknüpft wurden die beiden Bereiche aber kaum. In vielen Unternehmen haben sie sich deshalb auch stark auseinander entwickelt. Unternehmen haben sich auf die Fahnen geschrieben, innovativ, flexibel und anpassungsfähig zu sein – die Belegschaft dabei aber nicht mitgenommen. Der Boom rund um neue Technologien, Daten und Automatisierung war so präsent, dass diese Themen vielleicht zu vorrangig behandelt wurden und keine Verknüpfung mit den Menschen stattgefunden hat.

Wie kann diese Verknüpfung denn funktionieren?

Indem man spätestens jetzt beginnt, darüber nachzudenken, wie dieses Zusammenspiel in der Zukunft aussehen könnte. Welche Teile im Unternehmen will ich automatisieren? Es kann ja sein, dass ich sowieso niemanden mehr finde für bestimmte Jobs, weil es einfach Routinetätigkeiten sind. Es kann aber auch sein, dass man mit der Konkurrenz mithalten muss. Dafür braucht es ein Konzept. Man sollte der Belegschaft vermitteln, was einem da vorschwebt. Dann kann auch der Angst vorgebeugt und gezeigt werden, dass Technologie nicht dafür da ist, um Arbeitsplätze wegzurationalisieren, sondern um die Arbeit interessanter zu machen.

Inwiefern „interessanter“?

Vielleicht müssen Daten dann nicht mehr händisch in eine Excel-Tabelle eingetragen werden oder ich muss mich bei Wartungsarbeiten keinem Unfallrisiko aussetzen. Das kann ja attraktiver und interessanter sein, als wenn die Jobs so bleiben, wie sie sind.
Kann dieser Ansatz dabei helfen, gleich an die richtigen Leute zu kommen? Der Arbeitsmarkt zeichnet sich aktuell ja dadurch aus, dass es Unternehmen anscheinend oft schwerfällt, passende Mitarbeitende zu finden. Absolut. Es geht darum, Technologie einzusetzen, um Jobs attraktiver zu machen, einfacher zu machen – physisch sowie psychisch. Als Unternehmen kann ich mich dann mehr auf den Teil der Belegschaft konzentrieren, den ich tatsächlich halten und weiterentwickeln will.

Wie sieht es bei verschiedenen Branchen aus – sind Industriebetriebe bei diesen Personalthemen noch weiter hinten als etwa die IT-Branche, wo flexibles Arbeiten oft schon an der Tagesordnung ist?

Da gibt es tatsächlich noch große Unterschiede. Industriebetriebe haben generell beim kulturellen Teil noch viel Arbeit vor sich. Dabei geht es um die Frage, wie die Unternehmenskultur weiterentwickelt werden kann. Zum Beispiel weg von Anwesenheit und alteingesessenen Führungsstilen, hin zu Ergebnisorientierung und modernem Leistungsmanagement. Man muss darüber nachdenken, welche Lösungen wo im Unternehmen gut passen. Für die IT-Abteilung wird es nicht dieselben Antworten geben, wie für die Produktion, wo Menschen physisch anwesend sein müssen. Aber ich kann mich damit beschäftigen, beispielsweise Schichtmodelle anders zu gestalten. Da gibt es auch Modelle mit Gleitzeit, die eine gewisse Flexibilität erlauben. Manchmal ist es möglich, mit einer zusätzlichen Tagesschicht jene Tätigkeiten auszulagern, bei denen man nicht an der Maschine sein muss, möglicherweise aus dem Home-Office. Ansonsten, wenn es keine räumliche Flexibilität gibt, kann man darüber nachdenken, was der Belegschaft stattdessen angeboten werden kann. Das können Auszeiten sein, aber auch bei der Gestaltung der Räume kann das berücksichtigt werden. Letzten Endes hat es viel damit zu tun, unterschiedlichen Nutzertypen und Zielgruppen Aufmerksamkeit zu geben.

Diese „alteingesessenen“ Führungsstile, was verstehen Sie darunter?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel beim hybriden Arbeiten. Was wir jetzt oft von Unternehmen hören, ist die Aussage, dass man die Leute zurück ins Büro holen will, damit sie auch tatsächlich arbeiten. Gleichzeitig haben die Zahlen gezeigt, dass die Produktivität während der Pandemie im Home-Office genauso hoch, wenn nicht höher, war wie davor. Natürlich ist die Frage der Identität eines Unternehmens sehr wichtig, und dass sich die Menschen im Büro sehen, ist ein wesentlicher Aspekt dabei. Aber sie müssen nicht unbedingt anwesend sein, um zu arbeiten, das ist ein anderes Thema. Während der Pandemie hat diese Denkweise teilweise ausgesetzt und jetzt ist sie in vielen Betrieben wieder zurück. Da ist Führungskompetenz entscheidend. Wie kann ich feststellen, ob jemand Leistung erbringt? Wie kann ich verhindern, dass sich Menschen so vorkommen, als würden sie die ganze Zeit kontrolliert werden? Diese Aufgaben sind durch hybrides Arbeiten sicher komplexer geworden. Oft sind sie eine Frage der Unternehmenskultur. Wie man mit diesen Aufgaben umgeht, sollte von ganz oben seitens der Eigentümer vorgelebt werden.

Inwiefern wird diese durch die Pandemie erzwungene Flexibilität jetzt von jüngeren Menschen auch eingefordert?

Die Erwartungen und Präferenzen sind da wirklich von Generation zu Generation sehr unterschiedlich. Der Druck von vor allem jungen Arbeitskräften hin zu mehr Flexibilität und Eigenverantwortung ist schon deutlich größer als bei den älteren Generationen. Teilweise haben Unternehmen gar keine andere Chance mehr, als sich angesichts des Arbeitskräftemangels auf diese Erwartungen einzustellen und damit umgehen zu lernen. Das hat mit örtlicher und zeitlicher Flexibilität zu tun, aber auch mit Autonomie in der Arbeitsgestaltung.

Gerade in der Industrie wurde ja Fortschritt die längste Zeit mit mehr Effizienz und höherer Geschwindigkeit gleichgesetzt, Henry Ford und seine revolutionären Produktionsprozesse lassen grüßen. Haben Vorbilder wie er und diese Art des Managements nun ausgedient?

Dieser Ansatz passt sicher nicht mehr eins zu eins in unsere heutige Welt. Es ist viel wichtiger geworden, inwiefern Unternehmen vermitteln können, was sozusagen das große Ganze ist. Welche Rolle ein Job darin spielt und welcher Beitrag geleistet werden kann. Es geht aber auch darum, dass Aufgaben so bewältigbar wie möglich gestaltet und unnötige Tätigkeiten vermieden werden. Wie schwierig ist es, zu einer Entscheidung zu kommen? Wie viele Stufen muss ich durchlaufen, bis ich meine Aufgabe erfüllen kann? Wie viele Hierarchien stehen im Weg? Es gibt gegenüber Mühseligkeiten immer weniger Toleranz. Auch weil Jobs viel komplexer geworden sind und das Arbeitstempo enorm zugenommen hat.

Wo können Unternehmen denn auf Hierarchien verzichten?

Es ist ein Trugschluss, zu sagen, dass alle agil und ohne Hierarchien arbeiten sollen. Viel wichtiger ist es, weg von den verkrusteten Abteilungs-Silos zu kommen. Stattdessen sollte man sagen: Wir arbeiten zusammen, rund um einen Kunden und rund um ein Produkt. Das ist auch für Industriebetriebe wichtig – heißt aber nicht, dass sich die komplette Struktur ändern muss. Aber man sollte sich schon damit befassen, wie über Innovation nachgedacht wird und wie das Verbesserungsmanagement im Unternehmen aussieht. Das muss ich mir aus unterschiedlichen Perspektiven anschauen und da gehört das Marketing genauso dazu wie der Teil im Betrieb, wo die Maschinen stehen.

Existiert die Industrie da noch in einer Parallelwelt, wo gerade die Managementstrukturen noch sehr starr sind und flache Hierarchien noch kaum eine Rolle spielen?

Man darf nicht unterschätzen, wie viel in der Praxis eigentlich schon gelebt wird, was vielleicht am Papier noch anders dargestellt wird. Gerade im produzierenden Bereich braucht man von der Produktentwicklung bis zum Verkauf viele unterschiedliche Teams, die zusammenwirken. Da geht es dann teilweise mehr darum, etwas formal nachzuziehen, was im Unternehmen schon längst gelebt wird. Ich würde nicht sagen, dass die Industrie da im Hintertreffen ist. Ganz im Gegenteil – oft sind diese Unternehmen mit so einem starken Wettbewerb konfrontiert, dass sie gezwungen sind, eine Vorreiterrolle zu übernehmen.

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen – wie stark werden flexiblere Arbeitsmodelle noch an Bedeutung gewinnen und wie wird die Industrie damit umgehen?

Wenn das bedeutet, dass Mitarbeiter nicht mehr permanent bei einem einzigen Unternehmen sein werden, dann wird sich dieser Trend aus meiner Sicht noch verstärken. In den USA oder in Großbritannien ist das schon viel selbstverständlicher. Dass man eine gewisse Zeit miteinander verbringt und Arbeitsverhältnisse dann aber auch ohne große Aufregung wieder auseinandergehen. In Österreich steckt dieser Ansatz noch in den Kinderschuhen. In Bezug auf den Arbeitsort wird es, denke ich, weiterhin Mischformen aus hybridem Arbeiten und Anwesenheit im Büro geben. Für Führungskräfte ist das eine große Herausforderung, sie müssen ihre Teams trotzdem zusammenhalten und schauen, dass sie funktionieren. Es wird aber in Zukunft auch noch stärker darum gehen, wie Büros und Produktionsstätten gestaltet sind, wie Räume sinnvoll genutzt werden können. Noch halten die meisten Unternehmen am klassischen Konzept des Büros fest. Aber auch da wird es Veränderung geben, davon gehe ich aus.

Wie können Betriebe ihre Leute dazu bewegen, wieder in die Büros zurückzukommen? Oder sollen sie das überhaupt?

Es muss Sinn machen, ins Office zu gehen. Es kommt auch sehr stark auf die individuelle Lebenssituation an. Und wir dürfen nicht vergessen: Ich zum Beispiel habe schon viele Jahre vor der Pandemie im Büro gearbeitet, habe den Switch zu Großraumbüros mitbekommen, für mich war das Normalität. Für viele unserer jungen Kolleginnen ist das ungewohnt, sie haben es einfach nie anders erlebt, als die meiste Zeit von zu Hause aus zu arbeiten oder zu studieren. Für sie ist das die Normalität. Da kann es schon auch eine Überwindung sein, ins Büro zu kommen. Gleichzeitig ist das Miteinander vor Ort sehr wichtig – und bei produzierenden Unternehmen ja nicht wegzudenken. Aber als Dienstleister stellt man nichts Physisches her. Mein Erfolg sind die funktionierenden Beziehungen zu Kunden, zu Kolleginnen. Auf einer rein virtuellen Ebene wäre das völlig austauschbar.

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