„Der Arzt als Medizinexperte wird Konkurrenz bekommen“

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Von Daten zu Informationen und nutzbringendem Wissen: Wie neue digitale Technologien mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz die Medizin verändern werden.

Die moderne Medizin steht im Zeitalter der Digitalisierung vor der grundsätzlichen Herausforderung, qualitativ hochwertige Daten herauszufiltern, zu vernetzen und zu analysieren. Denn um gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse zu optimieren, müssen Daten in aussagefähige Informationen umgewandelt werden. Der Aufgabe, Informationen aus Krankenakten, Bilddatenbanken und Genomdaten zu kombinieren, um personalisierte Diagnose- und Behandlungsansätze zu ermöglichen, hat sich ab 2017 beispielhaft das EU-finanzierte Projekt iASiS gewidmet. „Unser Grundansatz bestand von Anfang darin, ein System zu entwickeln, das sowohl unstrukturierte als auch strukturierte Daten-, Bild- und Sequenzanalysen automatisch integriert und all dieses Wissen in eine Big-Data-Infrastruktur einführt“, so die damalige Projektmanagerin Maria-Esther Vidal. Die heutige Professorin für Scientific Data Management an der TIB – Leibniz Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften, verfolgt seit Jahren das Ziel, neue Methoden der Informatik zu entwickeln, die wissenschaftliche Daten in semantisch angereichertes Wissen umwandeln. Die neuen Verfahren, die alle Phasen des Sammelns, Kuratierens und Integrierens von wissenschaftlichen Daten einschließen, sollen es ermöglichen, mithilfe künstlicher Intelligenz große Datensammlungen systematisch nach wertvollen Informationen zu durchforsten.

Von Informationen zu Wissen

„Das Entscheidende bei der Bearbeitung von Daten ist, dass diese Daten mit Werten in Verbindung gebracht werden. Dazu brauchen wir ein Hilfsmittel. Und das sind die Algorithmen“, erklärt Informatikprofessor Joachim M. Buhmann vom Institut für Maschinelles Lernen, ETH Zürich. Daten stellen „Facetten der Wirklichkeit“ in den verschiedensten Formen dar – in der Medizin etwa als Genomdaten (Informationen aus einem EKG), histologische Daten, Informationen aus der bildgebenden Diagnostik oder, für Angaben über den klinischen Status, als herkömmliche Patientenakte. Komplettiert wird das Arsenal heute mit Daten aus der „Selbstvermessung“ des Einzelnen, Stichwort Fitnessuhr.

Ist von künstlicher Intelligenz die Rede, sind Algorithmen und Programme gemeint, die als Abbildungen zwischen Daten und Entscheidungen in der Lage sind, enorme Mengen an Informationen zu verarbeiten, Hypothesen im großen Maßstab zu testen und eigenständig Lösungen zu finden. Aus Daten werden so Informationen und in der Folge nutzbringendes Wissen. Algorithmen, künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen sind in diesem Prozess die entscheidenden Werkzeuge. „Algorithmen erforschen mittlerweile von selbst unsere komplexe Realität. An der künstlichen Intelligenz ist das Besondere, dass sie uns davor bewahrt, die Komplexität verstehen zu müssen“, erläutert Buhmann.

Der Arzt als Gesundheitsberater

Interessant ist bei alldem die Frage, wie neue digitale Technologien mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz die Medizin verändern werden. Geht es nach Buhmann, werden vor allem Ärzte dies deutlich zu spüren bekommen: „Der Arzt als Medizinexperte wird Konkurrenz bekommen. Der Arzt als Wissensproduzent wird Konkurrenz bekommen. Der Arzt als Gesundheitsberater erscheint mir in den nächsten Jahren hingegen als resistent.“ In zwei bis drei Generationen werden jedenfalls die Maschinen klüger als wir sein; ob ihre Entscheidungen dann auch zu besserer Medizin und einem humaneren Gesundheitswesen führt, wird die Zukunft zeigen.

Entscheidung bleibt beim Menschen

„Wir beschäftigen uns mit einem funktionierenden Datenfluss. Die Maschine bereitet vor, der Mensch entscheidet. Es geht nicht darum, dass der Mensch von der Maschine überwacht wird oder der Mensch bloß die Maschine überwacht. Es geht um eine Mensch-Maschine-Zusammenarbeit“, sagt Reinhard Riedl, Leiter des transdisziplinären Zentrums Digital Society an der Berner Fachhochschule (BFH). Am BFH Zentrum wird unter anderem der Frage nachgegangen, wo und wie künstliche Intelligenz im Gesundheitssystem am besten zum Einsatz kommen soll. Im Mittelpunkt steht dabei – analog zum Industrie-5.0-Konzept – der kooperative Ansatz. Riedl führt ein konkretes Beispiel an: „So identifiziert etwa in der Radiologie der Computer in Röntgen-, CT- oder MR-Bildern von Patienten verdächtige Organareale und führt sie dem begutachtenden Arzt so zu, dass dieser sie optimal beurteilen kann.“

Laut Reinhard Riedl sollte künstliche Intelligenz im Versorgungsalltag so eingesetzt werden, dass Fachkräfte des Gesundheitssystems bei ihrer Arbeit unterstützt werden: „Wir brauchen einen KI-Masterplan, der die Ressourcen der Systempartner bündelt und erarbeitet, in welchen Bereichen KI helfen kann.“ Ein Problem sei aktuell der Umstand, dass die Daten im komplexen Gesundheitssystem oft über viele Orte verstreut sind. „Daten müssen aber dort verfügbar sein, wo sie gerade benötigt werden und dem Patienten von direktem oder indirektem Nutzen sein können“, so Riedl.

Chancen und Grenzen

Die Erwartungshaltung an KI-gestützte Technologien ist hoch. Medizinexperten erhoffen sich beispielsweise beim Thema Krebs, dass man bald Mutationen im Tumorgewebe vorausberechnen und darauf die Therapie abstimmen kann. KI-Analysen scheinen sich auch ideal dafür zu eignen, klinische Studien zur Erprobung von neuen Medikamenten um ein Vielfaches effizienter zu gestalten. Eine weitere spannende Option besteht in der intelligenten Auswertung der in der Pharmaindustrie bereits verfügbaren Wirkstoffbanken mit ihren Millionen an Substanzen. „Viele davon sind bereits ausgetestet oder sogar schon beim Menschen tatsächlich im Einsatz. KI kann hier dazu genutzt werden, um neue Anwendungen für andere Erkrankungen leichter zu finden“, meint Gerd Folkers, Digital-Health-Fachmann und Ex-Präsident des Schweizerischen Wissenschaftsrats.

Folkers warnt zugleich vor einer zu großen Euphorie und weist auf noch bestehende Probleme hin, etwa am Beispiel von virtuellen 3-D-Darstellungen von Proteinen oder Molekülen für die Wirkstoffentwicklung. Das Problem bei der Übersetzung in virtuelle Realitäten liegt in der Qualität. Die Darstellungen haben große Reduktionsanteile und 3-D-Animationen spiegeln nicht unbedingt die biologische Realität wider. „Dass wir mit ein paar Mal Drücken auf die ‚Return‘-Taste ein neues Antibiotikum schaffen können, hat sich als falsch herausgestellt“, so Folkers. Die Zukunft der KI liege generell in Algorithmen-Paketen, die unterstützend wirken, Zeit einsparen und helfen, grobe Fehler zu verhindern. Dass die KI aber in absehbarer Zeit Ärzte ersetzt, sollte weder erhofft noch befürchtet werden.

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