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Noch ein Trümmerhaufen, den Putin hinterlässt

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Im Kreis der Osteuropaexperten findet eine Gewissenserforschung statt: „Was nur haben wir alles falsch gemacht?“

Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat eine Vielzahl bisher angenommener Gegebenheiten über den Haufen geworfen – und zwingt zu Neuansätzen:

In der Energiefrage erleben wir die Loslösung von russischem Öl und Gas, die Suche nach anderen Rohstofflieferanten und den verstärkten Trend hin zu erneuerbarer Energie; in der Sicherheitspolitik sehen wir die Verabschiedung von der naiven Vorstellung, in Europa seien eh alle einigermaßen gut miteinander und ein großer Bodenkrieg deshalb undenkbar; in der Welt der Wirtschaft löst sich vor unseren Augen die törichte Auffassung auf, dass Handel einen Wandel in autoritären/diktatorischen Regimen hin zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bewirkt. Um nur einige wenige Beispiele für die jetzige „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) zu nennen.


Schwer getroffen hat der russische Angriffskrieg auch die Osteuropaforschung. In der Welt der akademischen Osteuropaexperten hat eine eingehende „Gewissenserforschung“ eingesetzt, wie das Todd Prince von „Radio Free Europa“ beschreibt. „An Universitäten überall in der westlichen Welt hat dieser Krieg die russische Geschichte des Imperialismus und Kolonialismus in den akademischen Diskussionen der Slawistik und Eurasienkunde in den Vordergrund gerückt – in der Geschichts- ebenso wie in der Politikwissenschaft, in Kunst und Literatur.“

Mehr als 2000 Wissenschaftler werden sich in diesem Jahr in Philadelphia bei der Jahrestagung der Vereinigung für Slawische, Osteuropäische und Eurasische Studien zusammenfinden. Generalthema: De-Kolonisierung der Osteuropa-Forschung. Die Gewissensprüfung dreht sich in erster Linie um die Frage, ob sich insbesondere in den Fächern Slawistik und Osteuropäische Geschichte die westlichen Forscher nicht immer schon viel zu sehr auf Russland konzentriert und dabei das dortige Vielvölkergemisch ebenso wie die von Zaren und Sowjets unterworfenen Völker an den Rändern Russlands sträflich vernachlässigt haben.

Besonders scharf geht der renommierte Kölner Osteuropaforscher Gerhard Simon mit der eigenen Zunft ins Gericht. Für ihn hat die Osteuropaforschung kläglich versagt, weil sie Putins Angriffskrieg nicht hat kommen sehen; genauso wie sie bereits 1989/1991 vom Zusammenbruch des kommunistischen Systems überrascht worden sei. Nach 1991 habe es die Osteuropawissenschaft nicht geschafft, „die Priorisierung Russlands zu überwinden und beispielsweise der Ukraine, aber auch anderen vernachlässigten Regionen Osteuropas den ihnen zustehenden Platz einzuräumen“, kommentiert Simon.

Obwohl die meisten Ostforscher sich auf Russland konzentrierten, hätten sie „das postkommunistische Russland völlig falsch eingeschätzt. Nicht die leiseste Warnung war aus der Ostforschung zu vernehmen, dass Russland sich anschickte, aus der Gemeinschaft der zivilisierten Welt auszutreten“, rügt Simon.

Für ihn ist es ein Kardinalfehler, dass das postkommunistische Russland im Westen als „normales Land“ angesehen wurde, anstatt es so wahrzunehmen, wie es sich selber sieht: „Russland hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer stärker betont: Wir sind anders, wir wollen anders sein, eure Zukunft ist nicht unsere Zukunft. Vor allem hat sich der Westen geweigert zu verstehen, dass Russland sich für eine Weltmacht hält und als überlegen wahrnimmt (. . .). Russland hat seit längerem geplant, aus der zivilisierten Welt auszutreten und Krieg gegen jene zu führen, die sich seinem Griff nach der Weltmacht widersetzen.“
Vielleicht ist die Abrechnung Simons ja etwas gar krass geraten, aber als ehrlicher, geradliniger Anstoß zu der jetzt allseits geforderten Gewissenserforschung im Fach ist sie wohl bestens geeignet.

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