Culture Clash

Im Würgegriff der Verlassenheit

Wenn Menschen dankbar aufhorchen, wenn einer sagt, dass „Wien nicht mehr Wien“ sei, sind sie vielleicht keine Rassisten, sondern nur einsam.

Über Gottfried Waldhäusl ist alles gesagt. Aber was ist mit den Menschen, die er mit Sprüchen wie „Dann wäre Wien noch Wien“ zu erreichen sucht? Dass Wien anders ist als früher, ist ja nicht einmal dann, wenn man die Zugezogenen dafür verantwortlich macht, notwendigerweise eine rassistische Behauptung (sofern man unter Rassismus die Verachtung anderer Ethnien versteht), sondern schlichte Tatsache: Orte verändern sich. Und wer das als quälend empfindet, muss nicht ein Rassist sein, auch nicht unbedingt „Modernisierungsverlierer“ oder vom sozialen Abstieg bedroht.

Zunehmend erleben Menschen das Zerbrechen, Zerfallen oder auch nur Verwehen von Beziehungen und Zugehörigkeiten als fundamental. Empfinden ihr Urverlangen nach Geborgenheit und einem gesicherten Platz unerfüllt. Alles wird beunruhigend unvertraut. Wir nennen das: Einsamkeit. Oder mit Hannah Arendt noch klarer: Verlassenheit – „eine der radikalsten und hoffnungslosesten Erfahrungen des Menschen, nämlich überhaupt nicht zur Welt zu gehören“. Und das ist nicht nur ein sozialer Zustand, sondern – das hat die Neurowissenschaft herausgefunden – auch ein körperliches Leiden, im Schmerzzentrum des Hirns lokalisiert. Warum Einsamkeit wehtut, erklären Evolutionsbiologen so: Sie macht auf die Gefahr aufmerksam, in der nächsten Notsituation unterzugehen, weil man allein ist.

Bei der großen Lyrikerin Rose Ausländer heißt es – aus tatsächlich brutalen Erfahrungen geschöpft – im Gedicht „Einsamkeit II“: „Dein Land wird/dich verlassen/du wirst verlieren/Menschen und Schlaf/wirst reden/mit geschlossenen Lippen/zu fremden Lippen/Lieben wird dich/die Einsamkeit/wird dich umarmen“. Um diesem Würgegriff ausgesetzt zu sein, muss man nicht allein sein. Man kann sogar als Gruppe erleben, seinen Platz in der Welt zu verlieren. Und es muss auch noch nicht Tatsache sein – die Angst davor kann schon reichen, um sich in wehrhafte Nostalgie zu verschanzen.

Der Weg in die gefühlte Verlassenheit hat wohl viele Ursachen in unserer, im Vergänglichen ankernden, Kultur des Individualismus, der Digitalisierung von Beziehungen, der zur Schönwetter-Option herabgestuften Treue und des Hinausdrängens aller Nicht-Unterdrückten aus den großen Narrativen. Wenn jemandem das (oft nur rückblickend so) Vertraute fremd wird, ist es ebenso wahltaktisch verlockend wie perfide, ihm die Fremden als Schuldige zu präsentieren. Dem muss widersprochen werden – aber die „Rassismus!“-Gesänge sind nicht genug, wenn Menschen nach jemandem suchen, der ihren Schmerz wahr- und ernstnimmt.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2023)

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