Redebedarf

Im Zug endlich mal in Ruhe reden

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100 Rätsel der Kommunikation, Folge 25. Im Zug miteinander reden, eine einmalige Gelegenheit. Von ein paar Piktogrammen lassen wir uns davon doch nicht abhalten.

On. Off. Oder irgendwas dazwischen. Ehrlicherweise: Meistens ist es  irgendwas dazwischen. Nämlich wenn es um den Zustand geht, in dem man größtenteils den Tag verbringt. So richtig „on“ ist man bestenfalls zwei Minuten nachdem das Koffein und der Zucker einschießen. Dann fällt man wieder zurück ins Zwischenstadium. Offene Augen haben da gar nichts zu bedeuten. Denn ein paar Zentimeter weiter hinten im Kopf, in der Region, in der man landläufig das Gehirn vermutet, fährt man meist gerade eh ganz andere Filme. Gerne auch während man scheinbar mit anderen Menschen ins Gespräch vertieft ist. Eine solide Portion Aufmerksamkeit muss man schließlich für das reservieren, was rundherum noch so nach Aufmerksamkeit schreit. So etwas wie früher die 24-Bogen-Plakate im öffentlichen Raum, wie sich die ältesten noch lebenden Werbelegenden gerade noch erinnern. Heute sind es andere, die sich ins Gespräch einschalten: Pop-Up-Nachrichten oder dringende Botschaften von gurkerl.at. Ah, aber da war ja noch was: Hallo Du! Was wolltest du gerne sagen? Menschen sind schlechte Zuhörer. Aber nicht die Menschen sind schuld daran. Sondern die Umstände. Vor allem jene, in denen man sich miteinander unterhält. Weil eben immer etwas dazwischenfunkt. 

Sprechverhalten

Vielleicht wieder einmal eine lange gemeinsame Zugfahrt machen. Eine, in der man durch viele Tunnel rauscht. Dann lenkt einen nichts ab. Nicht einmal Landschaft. Außer man wird zufällig harsch zurecht gepsssssstet (ich glaube ich habe gerade ein Wort erfunden). Weil man versehentlich im „Ruhe-Abteil“ reserviert hat. Die Schilder sagen's deutlich. Und das ist auch ok, man muss den Menschen schon sagen, wie sie sich verhalten sollen. Woher sollen sie es denn sonst wissen? Ich bin absolut d’accord. Ich stehe auch rechts auf der Rolltreppe, wenn man mir es sagt, pack den Cheeseburger in der U6 nicht aus, trink das Wasser nicht heimlich am Klo in den Gaststätten im Wienerwald.  

Aber im Zug, da möchte ich trotzdem gerne reden. Doch die Dame, die ihre Ruhe haben wollte, erklärt ihr Bedürfnis so: „Ich hab extra im Ruhe-Abteil reserviert“. Das gilt aber nicht, finde ich, solange man nicht einen Aufpreis dafür bezahlt hat. In vielen Hotels und Gaststätten muss man für Freundlichkeit auch Aufschlag zahlen. Wenn ich im Stadtpark in Wien sitze und es ist gerade das „Genussfestival“, an dem jeder zweite mit Damenspitz in die Sträucher torkelt, reg' ich mich auch nicht auf und sag: „Ich hab mich jetzt extra in einen Park gesetzt“. Obwohl: Wahrscheinlich hab' ich mich deshalb schon ein oder zweimal aufgeregt.

Aber egal. Das wollte ich ja gar nicht erzählen. Acht Stunden fährt man von Wien nach Zürich. Wir waren vier und wir haben trotz Ruheabteil miteinander geredet und sogar versucht in jeden Satz irgendetwas mit „Ruhe“ oder „Ruheabteil“ einzubauen. Damit die Dame zwei Reihen hinter uns sich auch eingebunden fühlen konnte. Obwohl sie sich gar nicht mehr beteiligt hat. Die Zeit ist auch ohne ihren Input so schnell vergangen. Es war fast wie Binge-Watching. So etwas wie Social-Binging vielleicht (hab ich etwa schon wieder ein Wort erfunden versehentlich?). Von einem Thema zum nächsten. Innsbruck. Wörgl. Landeck. Und ich habe von den Freunden, mit denen ich unterwegs war, richtig interessante Sachen gehört. Was sie mir zuvor noch nie gewhatsappt oder gesmst haben. Acht Stunden Zugfahren ist von der Informationsdichte so wie 29 mal gemeinsam auf ein Bier gehen. Oder ein Whats-App Chat Verlauf von 128 Jahren. Ich kann's nur empfehlen. Wer sich das teure Zürich sparen will kann ja gleich wieder zurückfahren. Und noch dazu: 29 mal ungefähr maximal drei Bier in Wien: Das ist teurer als hin und zurück. 

100 Rätsel der Kommunikation.

Norbert Philipp bespricht in dieser Kolumne die dringendsten Fragen der digitalen und analogen Kommunikation: Muss man zu Chatbots höflich sein? Wie schreit und schweigt man eigentlich digital? Heißt „Sorry“ dasselbe wie „Es tut mir leid“?. Und warum verrät „Smoke on the Water“ als Klingelton, dass ich über 50 bin.

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