Spectrum

Der Dichter soll alles sein – der Dieb und das Opfer zugleich

Tisch und Stühle und Blumen: mehr als das Notwendige.
Tisch und Stühle und Blumen: mehr als das Notwendige.Niels Peter Jörgensen/picturedesk
  • Drucken

Der Trickdieb will dir zuerst eine Zeitung verkaufen. Während du in deiner Geldbörse nach einer passenden Münze sucht, stellt er mit einem raschen Blick fest, wie viele Scheine in deiner Börse stecken. Sind es genug, fleht er dich geradezu um eine weitere Kleinigkeit an.

Unlängst sagte ein Freund zu mir: „Ist dir schon einmal aufgefallen, dass in den klassischen russischen Romanen niemand arbeitet?“ In der Tat, weder bei Lermontov noch bei Turgenjew noch bei Tolstoi wird gearbeitet. Auch Raskolnikov arbeitet nicht. Im Roman „Anna Karenina“ beschäftigt sich zwar Ljewin, eine Nebenfigur, mit Landwirtschaft, er ist dabei aber mehr Utopist als Bauer, ein Vorfahre der späteren Tolstojaner. Arbeiten im weiteren Sinn? Tschitchikow, die Hauptfigur in Gogols „Die toten Seelen“, betätigt sich als eine Art Aufkäufer derselben, ist also ähnlich wie der falsche Revisor Chlestakow in der Gogol'schen Komödie „Der Revisor“ ein Betrüger. In den Romanen etwa Balzacs, die zum Teil beinah ein Jahrhundert früher entstanden sind, wird tüchtig gearbeitet – freilich auch oft mit unlauteren Mitteln, gierig und skrupellos. Damals war der kapitalistische Entrepreneur ein neuer sozialer Typus.

Die Wiener Herrengasse ist von morgens bis abends belebt, eine sogenannte Begegnungszone, in der Autos, Fußgänger und Radfahrer durcheinanderwimmeln. Direkt von der Gasse kann man in den Vorraum der Harrach'schen Familienkapelle eintreten. Was hat man vor sich? Einen beinah kubischen, auf barocke Art reich ausgestatteten Raum, ein Altarbild dazu, das Maria, von Engeln umgeben, offenbar zum Himmel aufgestiegen zeigt, darüber eine große, vergoldete Krone, dreidimensional ausgefertigt, die über dem Bild und also über dem Kopf der Maria schwebt. Kaum einen der vielen Passanten scheint der Ort anzusprechen. Stets bin ich hier allein gestanden, bewegt von der Glücksmaschine vor mir: Zuerst wird ein Bild gemalt, das den vom künftigen Publikum angestrebten Zustand ideal vorstellt: im Himmel und gekrönt dazu. Man betet zum selbst gemachten Bild und wird, wenn man es nur richtig macht, erlöst und selbst selig in himmlische Höhen erhoben: Himmelfahrt.

Im Gespräch mit einem Freund komme ich darauf, dass, meiner Meinung nach, der Sprachgebrauch der Naturwissenschaft geradezu sträflich naiv ist: Die Sprache im Alltagsgebrauch ist hochkomplex, der Gebrauch der Sprache behext uns, wie Wittgenstein das genannt hat. Darauf ereifert sich der Freund über den Taschenspielertrick gewisser seriöser Wissenschaftler, abwechselnd Umgangssprache und mathematisches Kalkül zur Problemlösung einzusetzen, als wäre das eine so exakt und verlässlich wie das andere.

Wenn ich mir vorstelle, wie Walther von der Vogelweide oder ein anderer Minnesänger zum Spiel auf der Laute im Rittersaal seine Dichtungen vortrug, wird mir klar, dass die Sprache, die Walther da spricht, eine andere ist als die, die er und seine Zuhörer nach beendeter Darbietung miteinander reden – nicht dem Wortstand, nein, der Funktion nach. Erst im vorigen Jahrhundert wird das theoretisch erfasst, z.B. von Jacobson und von Bachtin. Ob dadurch die Sprache der Kunst in die Alltäglichkeit heruntergeholt wurde, damit ihrer spezifischen Wirkmacht entkleidet und beraubt? Immer noch umgibt das Ritual des Lesens oder Zuhörens eine Aura, die den Vorgang deutlich vom Alltagsgespräch unterscheidet – zu unserem Wohl, kommt mir vor. Andererseits wird immer weniger gelesen. Vielleicht aus diesem Grund? Bei der poetischen Funktion der Sprache kann man davon ausgehen, dass Texte ihre Bedeutung nicht a priori besitzen, sondern die Leser die Bedeutung erst konstruieren, oder: Der Leser ist mit dem Text allein, auf sich selbst zurückgeworfen.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.