Gastkommentar

Sind die Deutschen die „Moralweltmeister“?

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In der deutschen Europa-, Migrations-, Klima-, Corona- und Identitätspolitik dominiert Moralismus.Doch das Mantra der Tugendhaftigkeit wie eine Monstranz vor sich herzutragen, läuft auf eine Scheinmoral hinaus.

Der Autor

Eckhard Jesse (geb. 1948) ist emeritierter Professor an der TU Chemnitz. Er fungierte von 2007 bis 2009 als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Der Mitherausgeber des „Jahrbuchs Extremismus & Demokratie“ zählt zu den bekanntesten Politikwissenschaftlern.

Deutschland geriert sich oft als „Moralweltmeister“. Das Land meldet zuweilen einen Moralanspruch an, der auf einen Sonderweg hinausläuft. Die Zahl der Schlüsselbeispiele, so unterschiedlich sie im Einzelnen sein mögen, ist Legion: Europa-, Migrations-, Klima-, Corona-, Identitätspolitik, um einige zu nennen. Solche gut gemeinten Alleingänge, denen manche eine Vorbildfunktion zubilligen, kommen im Ausland nicht gut an. Deutschlands Lehrmeisterrolle ruft Soupçon hervor. Ein paar Fallbeispiele.

 Europapolitik: Der Koalitionsvertrag der „Ampel“-Koalition von 2021 strebt die „Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat“ an. Europa firmiert für Deutschland als „Ersatzvaterland“ (Heinrich August Winkler). In ganz Europa ruft eine solche Maxime, die im besten Fall romantizistisches Wunschdenken ist, Kopfschütteln hervor. Ein europäischer Bundesstaat ist weder realistisch noch wünschenswert. Schon die Sprachenvielfalt steht dem ebenso entgegen wie die unterschiedliche (Erinnerungs-)Kultur.


Nationen stiften Gemeinschaft, wobei dies keine Absage an die europäische Idee sein muss, etwa im Bereich der Verteidigungspolitik. Der Brexit mag viele Ursachen haben, eine dürfte in der forcierten deutschen Migrationspolitik zu suchen sein: Großbritannien fürchtete unkontrollierte Migration.

 Migrationspolitik: Hier zeigt Deutschland eine Generosität, die zu immer mehr Zuwanderung führt. Die frühere Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, bezeichnete im Bundestag die Deutschen als „Weltmeister der Hilfsbereitschaft und der Menschenliebe“. Diese Willkommenskultur förderte freilich Abschottung anderswo.

Was 2015/2016 geschah, sah das Ausland weniger als noble Geste Deutschlands, und es trug im Inland zum Aufschwung des Rechtspopulismus bei. Wenn Deutschland jetzt die legale Migration erleichtern will, muss es die illegale strikt verhindern. Und die nunmehr forcierte Akzeptanz der doppelten Staatsbürgerschaft provoziert Loyalitätskonflikte.

 Klimapolitik: Deutschland strebt in diesem Bereich eine Vorreiterrolle an. Wohl nirgendwo ruft Greta Thunberg so viel Bewunderung hervor wie hier. Bisweilen schlägt Idealismus in Irrationalismus um. Wohin Weltrettungsleidenschaft im Extrem führt, belegen die rabiaten Aktionen der von apokalyptischen Horrorvisionen heimgesuchten „Letzten Generation“.
Deren Repräsentanten sprechen vollmundig von Verantwortung und sind in ihrem überschießenden Gesinnungseifer wahrlich keine Verantwortungsethiker, weil sie die Folgen ihres mitunter aus Verzweiflung geborenen Handelns ignorieren. Wer die ganze Menschheit missionsbewusst retten will, ignoriert die Interessen der konkreten Menschen im Alltag. Diese müssen den „zivilen Widerstand“ in Kauf nehmen, etwa bei Staus auf Straßen oder Blockaden auf Landebahnen.

 Coronapolitik: Der Staat will die Bürger bei einer Pandemie vor Ansteckungen mit einem Virus schützen. Das ist prinzipiell richtig, da jede Person ein Recht auf Leben hat. Aber der Paternalismus vernachlässigt dabei die Selbstverantwortung des Einzelnen. Wer bestimmte Eingriffe, die mit Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit kollidieren, nicht guthieß, hatte zuweilen den kaum behebbaren Vorwurf des „Coronaleugners“ hinzunehmen.
Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der eigenem Verständnis nach das gesundheitliche Wohl der Bürger in den Blick nimmt, rief mit seinem emotionalen Auftreten zuweilen Unverständnis hervor.

 Identitätspolitik: Tatsächlich oder scheinbar marginalisierte Gruppen melden ihren Anspruch auf Gleichstellung an und fördern kollektives Denken. Ein derartiger Kosmopolitismus, der auf Diversität setzt, trägt nicht zur Integration bei, sondern provoziert Spaltung.

Die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv sagt noch nichts über die Eigenschaften der Individuen aus, sind doch Interessen „der“ Frauen, „der“ Migranten und „der“ Homosexuellen nicht auf einen Nenner zu bringen. Political Correctness, Gender Mainstreaming und Cancel Culture gefährden zuweilen selbst die Wissenschaftsfreiheit. Diese gesellschaftlich bedingte Illiberalität, bei Deutschlands Eliten stark beheimatet, wurzelt in moralischem Rigorismus.
Aber was sind die Ursachen für diese in der Politik, der Publizistik und in der Wissenschaft verbreitete Haltung?

Der Hauptgrund: Die deutsche Schuld durch den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus hat ein nachwirkendes Schuldbewusstsein hervorgebracht. Das ist verständlich, aber darf darauf in die Zukunft gerichtete Politik basieren? So galt die Teilung des Landes als Buße für den angezettelten Weltkrieg in manchen Kreisen als berechtigt. Diese Form der Selbstzerknirschung schlägt damit in hochfahrendes Überhöhen um. Die Freiheitlichkeit eines Landes fußt nicht nur auf Werten, sondern auch auf Interessen, die zur Sprache kommen müssen. Sonst erliegt die Politik einem Irrglauben. 1972 lautete die Wahlparole der SPD: „Im deutschen Interesse“. Und Gerhard Schröder widersetzte sich vor 20 Jahren dem Ja zur Intervention in den Irakkrieg. Wer eigene Interessen unzureichend zum Ausdruck bringt oder gar leugnet, macht sich wegen der hervorgekehrten Selbstlosigkeit verdächtig.

Eine wertefreie Interessenpolitik ist für den Zusammenhalt eines jeden Staates ebenso gefährlich wie eine Wertepolitik, die jeglichen Interessen entsagt. Sie würde zum Spielball auswärtiger Mächte, und ihr fehlte es im Innern an Stabilität. Das Spanungsverhältnis zwischen Moral und Interesse lässt sich nicht einfach auflösen.

Missstände des Moralismus

Oft geht es gar nicht um Moral, sondern um Moralismus. In ihm keimt ein Überlegenheitsgefühl, er verzichtet auf rationale Analyse, gefällt sich in einer Erregungsattitüde, zielt auf moralische Herabsetzung des Gegners. Das Mantra der Tugendhaftigkeit, wie eine Monstranz vor sich hergetragen, läuft auf Scheinmoral hinaus. Gute Gesinnung und gutes Gewissen allein führen weder zu Urteilskraft noch zu nachvollziehbarer Moral.

Zwei Missstände sind besonders auffallend. Zum einen verachtet der Moralismus Legalität und favorisiert Legitimität. Er fühlt sich nicht unbedingt an die Einhaltung der Gesetze gebunden und präferiert – vermeintlich – höhere Werte, da der Zweck das Mittel heilige. Den demokratischen Spielregeln aber kommt ein hoher Rang zu.
Zum andern ist der Moralismus durch Doppelstandards geprägt. Die „Letzte Generation“ gilt nicht als extremistisch, die bizarre Vereinigung ohne Namen, die wirre Repräsentanten der „Reichsbürger“-Szene umfasst und Gewaltfantasien kundtut, hingegen als terroristisch. Verbreitetes Messen mit zweierlei Maß führt nicht zu großer Glaubwürdigkeit, unterminiert Moral. Die vielbeschworene Zeitenwende kehrt(e) jedenfalls bei dieser deutschen Tradition nicht ein.Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

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