Kinetismus – ein Wiener Phänomen

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Eine Ausstellung im Belvedere konfrontiert die Arbeiten der Wiener Kinetisten mit Werken von Kandinsky, Giacomo Balla, Franz Marc, Johannes Itten, Pablo Picasso. Eine längst fällige, vorbehaltlose Neubewertung.

Sie waren keine Künstlergruppe, sondern eine Schulklasse – allein das ist einmalig in der Geschichte der Moderne. Und sie haben keinen eigenen Stil entwickelt, sondern Vorangegangenes fröhlich vermischt. Beides gehörte im 20. Jahrhundert zu den großen Tabus, die lange eine ernsthafte kunstgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Kinetismus verzögerten. Jetzt aber erfährt dieses spezielle Wiener Phänomen aus den Jahren 1919 bis 1929 mit der Ausstellung im Belvedere endlich eine vorbehaltlose Neubewertung.

In den 1920ern leitete Franz Cizek die Klasse zur ornamentalen Formenlehre an der Wiener Kunstgewerbeschule. Die Jugendlichen forderte er dazu heraus, sich nicht auf Naturstudien zu beschränken, sondern sich mit den Vorkriegsavantgarden zu beschäftigen, deren Themen, aber auch deren Formensprache in ihren Werken aufzugreifen und weiterzuentwickeln.

Was damals entstand, waren keine Kunstwerke aus freiem Antrieb, sondern Schulaufgaben – aber im Großformat. Faszinierend etwa der siebenteilige „Gang durch die Großstadt“ von Erika Giovanna Klien oder, ebenfalls 1923, My Ullmanns fünfteiliger Fries „Tänzerinnen“, beide aus der Sammlung des Wien Museums.

Geometrisch-abstrakte Formen

In der Ausstellung im Belvedere werden diese Werke jetzt erstmals mit den Vorbildern zusammen gezeigt, mit Bildern von Giacomo Balla, Johannes Itten, Franz Marc, Picasso und Kandinsky, Zeichnungen von Robert Delaunay und El Lissitzky. Schnell wird bei den insgesamt 240 Werken deutlich, dass die Kinetisten sich eng an jenen geometrisch-abstrakten Formen orientierten, die im Kubismus Phänomene der sichtbaren Welt in willkürliche Bestandteile zerteilen und im Futurismus die Erfahrungen von Bewegung und Rhythmus in eine bildliche Sprache übersetzen. Entsprechend präsentiert auch das Belvedere die Werke nicht chronologisch, sondern in thematischen Blöcken von „Esoterik und Moderne“ über „Licht- und Kristallmetaphorik“, „Das Ornament“ bis zu „Tanz und Bewegung“.

Dank dieser Ordnung kann man überraschenderweise erkennen, dass einige Kinetisten durchaus eigene künstlerische Haltungen entwickelten. Vor allem die drei damals blutjungen Schülerinnen Klien, Ullmann und Elisabeth Karlinsky lassen Ansätze eigener Handschriften erkennen: Karlinsky, die Klimts Kompositionen mit Ballas Dynamik zu versöhnen scheint, oder Ullmann, die den futuristischen Maschinen- und Fortschrittsglauben mit ihren naiven Menschendarstellungen kontrastiert. Diese drei verfolgten auch – mehr oder wenig erfolgreich – ihre Künstlerkarriere über die Schulzeit hinaus.

Förderer Oswald Oberhuber

„Kinetismus“ leitet sich ab vom griechischen kinesis = Bewegung. Der Begriff wurde erstmals 1922 verwendet. Wenige Jahre später war die „Bewegung“ auch schon wieder vorbei, teils aus zeitpolitischen Gründen, teils aber auch, weil die wenigsten Schüler weiter als Künstler arbeiteten, sondern in die Wiener Werkstätten oder andere Betriebe wechselten. Bald war der Kinetismus vergessen, und es ist vor allem den Künstlern Bernhard Leitner und Oswald Oberhuber zu verdanken, dass eine umfassende Ausstellung heute überhaupt möglich ist. Beide waren sich schon damals sicher, dass der Kinetismus nicht eine verspätete Reaktion auf die Vorkriegsavantgarden war, sondern eine eigenständige, österreichische Übersetzung in Werke mit hoher malerischer Qualität – die Ausstellung im Belvedere gibt ihnen jetzt absolut überzeugend Recht.

Dynamik! Kubismus/Futurismus/KINETISMUS, bis 29. Mai, Unteres Belvedere, Rennweg 6, tägl. 10-18 Uhr, Mitt. bis 21 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2011)

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