Politologe: "TV-Sender schufen diesen Frauentypus"

Der Politologe James Walston erläutert, wie Silvio Berlusconi schon als Medienmagnat vollbusige Showgirls populär und in der Folge Italien zu einem »Bordellstaat« gemacht hat.

Die Welt schüttelt ungläubig den Kopf über das Land des Bunga-Bunga, dessen Ministerpräsidenten eine Anklage wegen Amtsmissbrauch und Prostitution mit einer Minderjährigen droht. Sie leben und arbeiten seit über 30 Jahren hier, kann Sie noch irgendetwas an der italienischen Politik überraschen?

James Walston (lacht): Ja, manchmal staune ich in diesen Tagen. Aber im Ernst, das Thema Sex in der Politik ist neu. Bis Berlusconis zweite Ehefrau Veronica Lario 2009 die Scheidung eingereicht hat, haben sexuelle Affären von Politikern hier keine Rolle gespielt.

Lario ging es ja nicht nur um die mutmaßliche Affäre ihres Mannes mit einer Minderjährigen, sondern um die Tatsache, dass Berlusconi Frauen, die er attraktiv findet, mit politischen Karrieren belohnt.

Das ist der springende Punkt. Natürlich hatten Politiker auch vorher Affären, und es gab immer wieder aufgeregte Debatten. Aber niemals zuvor hat Sex in dieser Art und Weise die politische Agenda bestimmt – und das gilt auch für die italienischen Medien.

Ist das also ein weiterer bleibender „Verdienst“ von Berlusconi?

Berlusconi hat den Sex in die Politik gebracht, und auch das hängt zentral mit seiner Medienmacht zusammen. Denn schon in den 1980er-Jahren, ehe er in die Politik wechselte, hatte er über seine Fernsehsender diesen Frauentypus geschaffen und populär gemacht.

Sehen wir nicht schlicht einen 74-jährigen Mann, dessen Angst zu altern fast pathologische Züge hat?

Ja, aber das Problem reicht viel tiefer.

Sie selbst haben kürzlich in einem Essay für die amerikanische Zeitschrift Foreign Policy Italien als einen „Bordellstaat“ bezeichnet. Geht das nicht zu weit?

Die Überschrift war sehr zugespitzt, zugegeben. Ich beziehe mich auf Dante, der in der „Göttlichen Komödie“ Italien als ein Schiff beschreibt, das führungslos in einem Sturm treibt – und auch als „Hurenhaus“.

Und so ist Italien auch 700Jahre später wieder?

Ich will mit dem Zitat etwas illustrieren. Mit dem Wort Bordellstaat ist zunächst etwas viel Weitergehendes als Sex in der Politik gemeint: Es geht hier um eine politische Kultur, in der vor allem die politische Klasse, aber auch viele andere darauf bedacht sind, mittels persönlicher Beziehungen möglichst schnell viele Vorteile für sich selbst herauszuschlagen. Das gilt in der extremsten Variante auch für bezahlten Sex und die Karrieren von Showgirls in der Politik.

Wäre das auch in anderen westlichen Demokratien denkbar? In Großbritannien spielt Sex in der Politik eine viel größere Rolle, in den USA hat die Lewinsky-Affäre zu einer Staatskrise geführt.

Nein, das glaube ich nicht. Gewiss gehen die britischen Medien anders und sehr aggressiv mit dem Privatleben von Politikern um, und auch in US-Wahlkämpfen spielt es eine Rolle. Berlusconi ist dennoch eine singuläre Figur: Das betrifft seinen Lebensstil, seine Angst vor dem Alter, aber vor allem, wie er wirtschaftliche und politische Macht verschränkt hat.

Das ist also nach wie vor das zentrale Problem?

Der Interessenkonflikt ist und bleibt die Ursünde von Berlusconi. Dazu kommt eine weitere bleibende Hinterlassenschaft: Die Bestätigung des Prinzips, dass man über dem Gesetz steht, wenn man in der Politik ist. In Italiens politischer Kultur ist es salonfähig, dass einige vor dem Gesetz weniger gleich sind als andere.

Wohin treibt das führungslose Schiff Italien? Ist überhaupt ein Punkt abzusehen, an dem jemand das Ruder an sich reißt und den Kurs ändert?

Italien ist ein Land, das sich schwer damit tut, Reformen von innen durchzuführen. Wenn es überhaupt dazu kommt, dann ist meistens Druck von außen notwendig. Die großen Ereignisse im 20.Jahrhundert, die in Italien zu massiven Umbrüchen geführt haben, waren die beiden Weltkriege, das 68er-Jahr, der Mauerfall und das Ende des Kalten Krieges.

Was könnte es jetzt sein? Die Wirtschaftskrise?

Wenn, dann ist es Druck aus der Wirtschaft. Es geht mit Italien seit Jahren schleichend, aber unaufhaltsam bergab, und das bekommt jeder Italiener zu spüren. Schon jetzt übernimmt jemand wie Fiat-Chef Sergio Marchionne Modernisierungsaufgaben, die eigentlich Sache der Politik wären. Viele Italiener haben große Angst vor Veränderungen, und es fehlt in allen Bereichen der Gesellschaft an Führungspersönlichkeiten – womit wir wieder bei Dante wären.

Ist die Angst vor Veränderungen nicht auch ein wichtiger Grund, warum Berlusconi noch immer gewählt wird: weil er ein Garant dafür ist, dass alles beim Alten bleibt?

In gewisser Weise stimmt das, gleichzeitig wächst aber die Unzufriedenheit.

Ist das nicht paradox?

Italien ist kein leicht zu erklärendes Land. Ich bin trotzdem überzeugt davon, dass sich bald etwas ändern wird.

Aber wird Berlusconi nicht erneut gewinnen, wenn es zu Neuwahlen kommt? Und dann geht alles einfach weiter wie bisher?

Nicht in dem Ausmaß wie beim letzten Mal. Aber Sie haben recht, er ist ein guter Wahlkämpfer und hat einen großen Teil der Medien hinter sich. Und er muss auch gewinnen, weil er sich sonst der Justiz stellen müsste, und das wird er niemals zulassen. Eher würde er ins Exil gehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Die Schönen und der…

Berlusconis Schicksalsfrauen

Italien Aufstand Frauen MachoLand
Außenpolitik

Italien: Aufstand der Frauen im Macho-Land

Gegen Premier Berlusconi wird wegen Prostitution mit Minderjährigen ermittelt, sein Fernsehen überschwemmt Italien mit Bildern halbnackter Mädchen. Doch nun gehen die Frauen in Italien auf die Straße.
A protestor bangs pots and pans as he takes part in a demonstration calling for the resignation of It
Außenpolitik

Italien: Demos gegen Berlusconi in über 40 Städten

Die Internet-Bewegung "Lila Volk" stellt landesweite Proteste gegen den Premier auf die Beine. Demonstriert wurde vor allem vor Symbolen der italienischen Demokratie.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.