Ein neues Teilchen? Eine neue Kraft? Oder doch nur trügerische Analysen?

Physik. Wurde im US-Forschungszentrum Fermilab ein neues Elementarteilchen entdeckt? Das ist bisher nur Spekulation. Das viel gesuchte Higgs-Teilchen ist es jedenfalls sicher nicht.

Ein neues Elementarteilchen hätten die Physiker am Teilchenbeschleuniger Tevatron im Fermilab bei Chicago entdeckt. Diese Geschichte geistert seit vorgestern durch Medienkanäle. Losgetreten hat sie die „New York Times“, sie berichtete über einen „tantalizing glimpse“ (ungefähr: eine aufregende Sichtung), der die Physiker den Atem anhalten lasse. Als ein Physiker dann doch zum Atmen kam, sagte er der Zeitung: „Keiner weiß, was es ist. Wenn es aber real ist, dann wäre es die wichtigste Entdeckung der Physik seit einem halben Jahrhundert.“ Cooler äußerte sich ein anderer Fermilab-Forscher gegenüber Science: Er sei über den Artikel erstaunt, es sei wohl an diesem Tag in der Welt nicht viel los gewesen („it must have been a slow news day“).

Teilchen, die sofort zerfallen

Was war wirklich los? Nun, bei den Experimenten im Tevatron-Teilchenbeschleuniger haben bereits Milliarden von Zusammenstößen von Protonen und Antiprotonen stattgefunden. Was sich bei diesen Kollisionen ereignet hat, wird mit viel Computereinsatz analysiert. Diesfalls filterten die Physiker solche Kollisionen heraus, bei denen ein W-Boson (das ist ein Teilchen, das die schwache Kernkraft verkörpert) entsteht – und dazu ein anderes Teilchen, das aber sofort zerfällt und dabei zwei „Jets“ (Strahlen) aus wieder anderen Teilchen erzeugt. Aus den Energien und Impulsen dieser Jet-Teilchen kann man Rückschlüsse auf das Teilchen ziehen, aus dem sie entstanden sind. Nun fanden die Forscher etliche „Ereignisse“, bei denen die Jets aus einem bisher unbekannten Teilchen stammen könnten.

Die entsprechende (noch nicht publizierte, aber als „Preprint“ auf arxiv.org einsehbare) Arbeit trägt den komplizierten Titel: „Invariant Mass Distribution of Jet Pairs Produced in Association with a W boson in ppCollisions at ✓s=1.96 TeV“.

Das klingt nicht wirklich nach physikalischer Revolution, und auch im Text ist gar nicht die Rede von einem neuen Teilchen. Nur von einem „disagreement“ zwischen der beobachteten Massenverteilung in den Jets und der Theorie, die sie vorhersagen soll. Eine Möglichkeit, diese Nichtübereinstimmung zu interpretieren, sei „ein Überschuss im Massenbereich zwischen 120 und 160 GeV/c2“. (GeV steht für Gigaelektronenvolt, das ist eine Energieeinheit, die sich direkt von der Spannung im Teilchenbeschleuniger ableitet, daher ist GeV/c2 eine Masseneinheit, die die Teilchenphysiker aus praktischen Gründen gern verwenden.) Den Überschuss wiederum könnte man dadurch erklären, dass ein Teilchen entstanden sei, das eine Masse in diesem Bereich hat.

Nun sind die Physiker tatsächlich verzweifelt auf der Suche nach einem Teilchen, das zumindest schwerer als 114 GeV/c2 sein muss (weil man es sonst schon gefunden hätte): nach dem berühmten Higgs-Teilchen, dessen Feld anderen Teilchen ihre Masse verleihen soll. Doch wer jetzt „Heureka!“ schreit, wird enttäuscht. Denn die Physiker können laut Fermilab (www.fnal.gov) ausschließen, dass es sich bei dem Teilchen – wenn es denn eines ist – um das Higgs-Boson handelt, das die Physiker suchen.

Kein Zeichen von Supersymmetrie

Auch eines der supersymmetrischen Teilchen, die eine über die Standardtheorie der Teilchenphysik hinausgehende Theorie postuliert, kann es nicht sein. „Stattdessen“, heißt es in der Mitteilung, „könnte es sein, dass wir eine komplett neue Art von Kraft sehen.“ „Weniger glamourös“ sei eine andere Erklärung: Die Beschreibung der Vorgänge in den Detektoren müsse überdacht werden.

Zunächst aber müssen die Ergebnisse bzw. Analysen überprüft werden. Ihre Signifikanz reicht bisher nicht aus, um auszuschließen, dass es sich um eine statistische Schwankung handelt: Sie liegt circa bei 3σ (σ ist die Standardabweichung), erst bei 5σ sprechen die Physiker von einer Entdeckung. Die Aufregung im Fermilab ist dennoch groß: „Wir verstehen, dass jetzt alle auf uns schauen“, sagt ein Physiker, „wir hoffen, dass man in den nächsten Wochen von uns hört.“

Amerikanische Patrioten unter den Fermilab-Physiker dürften mit der Aufregung jedenfalls zufrieden sein. Denn das Tevatron gilt als überholt, seitdem der deutlich energiereichere „Large Hadron Collider“ des europäischen Cern in Genf läuft. Es soll auch im September 2011 abgebaut werden.

US-Teilchenbeschleuniger

Das Fermilab („Fermi National Accelerator Laboratory“) ist ein Forschungszentrum für Teilchenphysik, das vom US-Energieministerium betrieben wird.

Das Tevatron des Fermilab ist ein Teilchenbeschleuniger, in dem Protonen und Antiprotonen aufeinander geschossen werden. In ihm wurde 1995 das bisher schwerste Elementarteilchen, das Top-Quark, erzeugt. Es war der energiereichste Beschleuniger, bis es der europäische „Large Hadron Collider“ in Genf überholte. 2011 soll es abgebaut werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2011)

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