Man muss einfach zur Tagesordnung übergehen

Das Attentat von Oslo und Utøya erklärt nichts und lässt sich nicht erklären. Doch die Versuchung, es politisch zu instrumentalisieren, scheint unwiderstehlich zu sein.

Nach monströsen Ereignissen wie der Ermordung von fast 100 Menschen durch einen Psychopathen lautet eine der Standardphrasen, man könne nach einem so schwerwiegenden Ereignis nicht zur Tagesordnung übergehen. Das trifft sicher auf die direkt Betroffenen zu. Für sie ist es schlechterdings unmöglich, zur Tagesordnung überzugehen. Sie bedürfen der intensiven Betreuung von Spezialisten, die den überlebenden Opfern dabei helfen, die Auswirkungen des Erlebten auf ihr weiteres, auf ihr ganzes Leben in einem erträglichen Rahmen zu halten.

Wenn man so weit gehen möchte, das Land, in dem ein solches Ereignis stattfindet, als Betroffenen zu betrachten, wird auch dort der Übergang zur Tagesordnung nicht sofort erfolgen können. Es gibt gut erprobte Rituale der Trauer, der Versicherung des Zusammenhaltes und der Selbstvergewisserung als Gesellschaft, die sich in ihrem Selbstverständnis nicht dadurch beeinträchtigen lässt, dass in ihrer Mitte das Böse sichtbar geworden ist.

Alles, was darüber hinausgeht, jeder Versuch, die Quellen für die wirren Fantasien eines Psychopathen zur Diskreditierung des politischen Gegners heranzuziehen, kommt einer Ausbeutung der Opfer gleich. Sie hat mit der Veröffentlichung jenes 1500 Seiten starken „Manifestes“ mit dem Titel „2083 – A European Declaration of Independence“ begonnen, das der Attentäter kurz vor der Tat veröffentlicht hat. Es zeigt, an welchen Schnittstellen sich die kranke Persönlichkeit eines 32-Jährigen mit Material zur Befriedigung seiner außer Kontrolle geratenen Macht- und Größenfantasien versorgt hat.

Auf „spiegel.de“ findet sich eine Analyse des „Manifestes“ von Anders Behring Breivik, die nahelegt, dass er im Wesentlichen Material, das er in einschlägigen Blogs gefunden hat, montiert hat. Seine wichtigste Quelle sei der Blogger „Fjordman“, in rechten Bloggerkreisen habe es sogar eine Debatte darüber gegeben, ob nicht Breivik selbst, der schon 2009 unter der Mailadresse year2083@gmailcom agiert habe, hinter dem Pseudonym „Fjordman“ stehe. „Fjordman“ habe sich nun mehrmals zu Wort gemeldet, um klarzustellen, dass er nicht der Massenmörder sei, und müsse seither „nur“ noch mit dem Vorwurf leben, dass er „ein Brandstifter“ sei, Breiviks „Inspiration“.

Anders Behring Breivik war offensichtlich seit Jahren in jenem Teil der Bloggerszene aktiv, die sich selbst als „antidschihadistisch“ definiert. Diese Szene ist pro-israelisch und prowestlich, mit dem althergebrachten, nationalsozialistisch inspirierten Rechtsextremismus will sie nichts zu tun haben. Ihr Thema ist die „Islamisierung“ mit all ihren Nebenthemen vom Anti-Multikulturalismus bis zum „wehrhaften Christentum“. Die Grundthesen, die dort debattiert werden, finden sich auch in den offenen Debattenforen etablierter, seriöser Medien.

Wer Breiviks „Manifest“ querliest, wird dort wenig finden, das er nicht auch in den Postings zu Themen der internationalen Tagespolitik finden könnte. Es sind Dokumente der Auflehnung gegen die Political Correctness, deren Autoren unter dem Schutzmantel der Anonymität die Möglichkeit sehen, ihr Gefühl von Ohnmacht und vom Betrogen-Werden durch ein politisches „Establishment“, das auf die „wirklichen Sorgen“ der Bürger keine Rücksicht nimmt und die „Wahrheit“ über die Bedrohung der abendländischen Kultur verschweigt, in Form offener Aggression auszuagieren.


Unter den Postern, die dort aus sich herausgehen, sind viele, die in der wirklichen Welt ein ehrbares bürgerliches Leben leben. Man sollte darauf vertrauen, dass Gewaltexzesse wie jener von Oslo und Utøya ein gewisses Maß an Nachdenklichkeit auslösen.

Menschen, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die Zuwanderung und kulturelle Entgrenzung mit sich bringen, nicht zurechtkommen, als Terror-Brandstifter zu denunzieren wird das Problem nicht lösen. Man kann nur zur Tagesordnung übergehen. Und auf der sollte ganz oben die Frage stehen, wie man die Debatte über Chancen und Risken unserer neuen gesellschaftlichen Wirklichkeiten aus der aggressiven Anonymität der virtuellen Welt zurück in den politischen Diskurs holen kann.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2011)

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