Medizin: Numerus-clausus-Flucht in den Osten

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Immer mehr angehende Mediziner aus Deutschland zieht es wegen der Zugangsbeschränkungen im eigenen Land an Unis in Rumänien. Dort hat man die ausländischen Studenten längst als lukrative Einnahmequelle entdeckt.

Hellgraue Tische, gepolsterte Stühle: Die Uni-Bibliothek im rumänischen Timişoara ist frisch renoviert – und kontrastiert mit dem Treppenhaus, wo abgebröckelte Stufen und fleckiger Putz ihrer Sanierung harren. In der Bibliothek lernen Raffaela und Stefan für ihre letzte Prüfung vor den Sommerferien, dann geht es nach Hause – nach Deutschland.

„Ich wollte unbedingt Medizin studieren“, erzählt Raffaela. „Aber mit meinem Abi-Schnitt hätte ich zehn Semester auf einen Studienplatz gewartet.“ Einen Notendurchschnitt von 1,3 oder besser braucht man in Deutschland für Medizin – viele scheitern an dieser Hürde. Einige versuchen ihr Glück in Österreich. Doch obwohl die Deutschen knapp die Hälfte der heuer 10.500 Bewerber stellten, werden nur wenige der Numerus-clausus-Flüchtlinge auch einen Studienplatz ergattern. Dieser Tage werden die Ergebnisse der Eignungstests veröffentlicht, doch drei Viertel der Plätze sind bislang für Österreicher reserviert.

Auch Raffaela hatte eine Bewerbung in Österreich erwogen. Als sie aber von einem Bekannten erfuhr, dass es im westrumänischen Timişoara einen englischsprachigen Studiengang gibt, fiel die Entscheidung rasch. Seit einem Jahr studiert die 20-Jährige nun an der „Victor-Babeş-Universität“ für Medizin und Pharmazie.

Kein Eingangstest für Ausländer

Seit 1997 wird hier das Medizinstudium auf Englisch oder Französisch angeboten. „Früher zog das Angebot vor allem außereuropäische Studenten an, etwa aus Nigeria und Indien“, sagt Agnes Balint, Leiterin des Büros für Internationale Beziehungen der Universität. Seit einigen Jahren nimmt die Studentenzahl aus der EU zu. Bis nach Österreich hat sich das Angebot noch nicht wirklich herumgesprochen: In Raffaelas Jahrgang gibt es bisher nur eine einzige österreichische Studentin, ein gutes Drittel ihrer 100 Kommilitonen ist dagegen aus Deutschland.

Wie ihr Lernpartner Stefan (20) aus Bayern. Auch sein Notendurchschnitt reichte nicht für ein Studium in der Heimat. „In ein unbekanntes Land zu gehen, war schon ein Abenteuer“, erzählt er, „aber Timişoara ist eine schöne Stadt – viel westlicher, viel moderner als ich mir Rumänien vorgestellt habe.“ In der 300.000-Einwohner-Stadt begann 1989 die rumänische Revolution, bis zum Jahr 1918 gehörte sie zur k.u.k. Monarchie. Das Leben ist beschaulich – und günstig: eine Hauptspeise bekommt man um umgerechnet 2,50 Euro, ein WG-Zimmer gibt es ab 100 Euro pro Monat.

Deutlich teurer ist das Studium: Die rumänischen Hochschulen haben die ausländischen Studierenden längst als lukrative Einnahmequelle entdeckt. 4000 Euro zahlen Hochschüler für die fremdsprachigen Studiengänge pro Jahr, mehr als drei Mal so viel wie für den Studiengang auf Rumänisch. Für rumänische Studenten sind auch die 1200 Euro ein harter Brocken.

Während die Rumänen außerdem einen Aufnahmetest bestehen müssen (für die Besten eines Jahrgangs entfallen die Gebühren), ist die Zulassung für den internationalen Studiengang wesentlich unkomplizierter: Eine Aufnahmeprüfung ist nicht nötig, ein übersetztes Maturazeugnis und ein Sprachnachweis für die Unterrichtssprache Englisch oder Französisch sind ausreichend. Allein im englischsprachigen Zweig der Victor-Babeş-Uni studieren derzeit knapp 4300 Studenten. Für die Uni in Timişoara ist der fremdsprachige Studiengang eine finanzielle Stütze. Denn das Bildungsbudget des krisengeschüttelten Landes ist knapp.

Der Abschluss wird anerkannt

Trotzdem glauben Raffaela und Stefan nicht, dass die Qualität des Studiums in Rumänien schlechter sei als im Westen. Zwar haben sie schon irritierende Momente erlebt, in der Bibliothek gab es etwa kein Anatomiebuch auf Englisch: „Man hat uns zum Copyshop geschickt, wo man alle Bücher zum Kopieren findet“, so Raffaela. Aber es gebe auch große Vorteile: „In Deutschland hat ein Jahrgang rund 800 Studenten. Hier kennen dich die Professoren persönlich.“ Nach der Regelstudienzeit von sechs Jahren wird der Abschluss in Deutschland anerkannt.

Auch Manuel bewertet den Standort Timişoara positiv. Der 26-jährige Schwarzwälder schließt kommendes Jahr sein Studium ab: „Die Theorie ist ja überall dieselbe. Aber in Deutschland kommt man während des Studiums kaum mit Patienten in Kontakt. Hier sind wir seit dem dritten Studienjahr fast jeden Tag im Krankenhaus und untersuchen Patienten. Da bekommt man ein ganz anderes Gefühl für den Körper.“

Im Krankenhaus hat er auch die dunklen Seiten der rumänischen Realität kennengelernt. Das Gesundheitssystem des zweitärmsten EU-Landes ist unterfinanziert. Ärzte verdienen schlecht: Der Monatslohn während der Facharztausbildung liegt bei umgerechnet 200 Euro, Oberärzte verdienen knapp 500 Euro. Oft fehlen Medikamente und Verbandszeug, Patienten müssen sie zu Operationen dann selbst mitbringen. Manuel findet das erschreckend.

Doch für seine medizinische Ausbildung sei genau diese Situation ein immenser Vorteil: „Weil viele Rumänen sich die Behandlung nicht leisten können, gehen sie oft erst spät zum Arzt. Deshalb sieht man Krankheiten in Stadien, die man bei uns nur aus dem Lehrbuch kennt.“

Auf einen Blick

Angehende Mediziner, die in Deutschland oder Österreich keinen Studienplatz bekommen, weichen zunehmend in den Osten aus: etwa nach Budapest, wo Studenten für ein Jahr Medizinstudium auf Deutsch knapp 12.000 Euro berappen.

Günstiger sind die englisch- oder französischsprachigen Studiengänge in Rumänien, etwa in Timisoara, Cluj oder Bukarest. Die Gebühren liegen dort zwischen 3000 und 5000 Euro pro Jahr. Die Hochschulen haben die ausländischen Studenten längst als lukrative Einnahmequelle entdeckt. Aufnahmeprüfungen gibt es für die fremdsprachigen Studien keine, Maturazeugnis und Sprachnachweis für die Unterrichtssprache reichen für die Zulassung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2011)

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