Ein Ort an der Grenze

„Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der kommunistischen Staatenwelt habe ich mir bisher weitgehend erspart. Und die hole ich jetzt nach.“ Josef Haslinger über Uranerz für die Sowjetunion, das Schicksal des tschechischen Eishockeyspielers Bohumil Modrý und seinen neuen Roman: „Jáchymov“.

In Ihrem neuen Roman geht es um einen tschechischen Eishockey-Nationalspieler, der 1950 wegen „Kontaktnahme mit einer fremden Macht“ trotz großer sportlicher Erfolge vom kommunistischen Regime zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. Wie sind Sie zu diesem Stoff gekommen?
Ich habe vor 20 Jahren Blanka Modra kennengelernt, die Tochter des Eishockeyspielers Bohumil Modrý. Seit dieser Zeit überlegte ich, diesen Stoff literarisch zu bearbeiten. Merkwürdigerweise konnte ich erst darüber schreiben, als ich mich entschlossen habe, die Spuren der Perspektive so ähnlich anzulegen, wie sie in Wirklichkeit waren, also nicht einfach einen historischen Roman zu schreiben, sondern die Verbindung zur Gegenwart aufrechtzuerhalten. Ich suchte den Zugang über die Tochterfigur, auch um eine historische Entwicklung im Roman abbilden zu können. Und um die Sache noch differenzierter darstellen zu können, habe ich die Erzählfäden bei der Figur von Anselm Findeisen, der aus der DDR stammt, zusammenlaufen lassen.
Wie haben Sie Frau Modra kennengelernt?
Vor mehr als 20 Jahren wurde meine politische Revue mit dem Titel „Karfreitag, 1. Mai“ in der Wiener Kulisse aufgeführt. Das war die Nachstellung einer SPÖ-Bezirksparteiversammlung in der Zeit, als man dachte, man sollte die Parteimitglieder nun nicht mehr mit politischen Programmen belästigen, sondern müsse ihnen Unterhaltung und Show bieten. Dagegen steht eine Emigrantin, die im Alter nach Wien zurückgekommen ist, zur Versammlung ihrer alten Partei geht und nicht fassen kann, was daraus geworden ist. Die für die Showeinlagen zuständige Figur wurde von Blanka Modra gespielt.

Bei den Proben haben wir begonnen, uns über unsere Väter zu unterhalten. Ich habe von meinem Vater erzählt, der sehr früh an Krebs gestorben ist und den ich damals noch sehr vermisst habe. Und sie hat dann von ihrem Vater erzählt. Ich war damals aber noch nicht so weit, darüber schreiben zu können. Es war die Zeit des Zusammenbruchs des Kommunismus, aber an eine Grenzöffnung wollte noch niemand glauben. Ich bin mit Blanka Modra in Kontakt geblieben. Jedes Mal, wenn wir uns getroffen haben, kam das Gespräch auf ihren Vater. Da habe ich gemerkt, wie sehr das ihr Lebensgepäck ist, das sie in die Emigration mitgenommen hat. Später habe ich begonnen, selber in der Sache zu recherchieren. Das hat ungefähr zwei Jahre gedauert. Ich habe mich sogar zu einer Schnupperkur in Jáchymov entschlossen.
Das ist der Titel Ihres Romans. Er ist nach diesem Kur- und Bergbauort an der deutsch-tschechischen Grenze benannt, wo der Vater Blanka Modras als Häftling Uran abbauen musste. Ein Ort mit einer gewissen Magie, nicht wahr?
Das war ein altes Silberbergbauzentrum, genannt Joachimsthal. Von dort kommt letztlich der Dollar, denn dort wurde der erste Thaler geschlagen. Er trug auf der Vorderseite ein Abbild des heiligen Joachim und wurde deshalb „Joachimsthaler“ genannt. Später hat Marie Curie aus der Pechblende von Joachimsthal das Radium isolieren können und dafür ihren ersten Nobelpreis bekommen. Sie war ja der Ansicht, dass im Radon nur heilende Kräfte sind. Von der schädlichen Wirkung der Radioaktivität wusste sie nichts und hat deshalb die Bestrebungen, Radonbäder zu gründen, unterstützt. So wurde noch während der Monarchie in Joachimsthal das erste Radonheilbad der Welt eingerichtet.
Nun hat diese Kombination von Heilen und Vernichten ja etwas Urmenschliches. Anselm Findeisen fährt zum Heilen hin und erfährt dort von der Vernichtung. Das macht wohl die Faszination an diesem Ort aus.
Damit sind Sie im Zentrum des Plots. Durch ein und dasselbe Element werden die einen geheilt und die anderen vernichtet. Heutzutage fahren viele Deutsche, vor allem Sachsen, auf Kur dorthin. Und dann gibt es noch die Relikte der alten Uranstollen und der Lager für die Gefangenen. Zuerst haben die Nazis Uran abgebaut, damals mussten das vor allem russische Kriegsgefangene machen. Nach dem Krieg haben dann bis 1948 deutsche Kriegsgefangene das Uran abbauen müssen. Als die tschechischen Kommunisten die Macht übernahmen, wollten sie die Deutschen loswerden, und man hat angefangen, sie durch Gefangene aus der eigenen Bevölkerung zu ersetzen. Dort, wo es am gefährlichsten war, also zum Beispiel im Staub der Rüttelmaschinen, wo das Uran zerkleinert und vom tauben Gestein getrennt wurde, hat man gezielt Priester, Theologen und politische Gefangene eingesetzt.
Man hat also die dem Regime missliebigsten Leute eingesetzt?
Man hat den missliebigen Teil der eigenen Bevölkerung der russischen Atomindustrie geopfert, denn das gesamte Uran ging in die Sowjetunion. Das war ein großes Bergbaugebiet, das weiträumig abgesperrt war, das man nur mit Sonderausweis betreten konnte. Es waren bis zu zwölf Lager dort eingerichtet, die alle aussahen wie KZs mit Wachtürmen, Stacheldraht, Appellplätzen.
Diese KZs haben also die Kommunisten nahtlos von den Nazis übernommen. Daran zeig sich doch ein nicht unwesentlicher Teil der europäischen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts.
Unter den Nazis gab es nur ein oder zwei Lager. Die sind übernommen worden. Zuerst wurde im Nazi-Stil weitergebaut, später mussten die Gefangenen neue Lager im sowjetischen Gulag-Stil errichten. So entsprach etwa das Lager Barborá, benannt nach der heiligen Barbara, der Schutzheiligen der Bergleute, in dem auch Bohumil Modrý eingesperrt war, den Gulag-Standards.
Das spielt doch hinein in den berühmten Historikerstreit bezüglich der Vergleichbarkeit der Nazi-Diktatur mit der kommunistischen Diktatur.
Den Opfern wird es wahrscheinlich gleich sein, ob sie von den Nazis oder den Kommunisten umgebracht wurden. Aber es gibt bei den Nazis natürlich eine historische Einmaligkeit, nämlich den Holocaust. Dieses Auswahlverfahren der Opfer nach Rassenzugehörigkeit, das ein Neugeborenes zum Tode verurteilt, egal wie es sich im Leben verhalten würde, sollte man nicht gleichsetzen mit der rabiaten politischen Mordmaschinerie etwa der Roten Khmer in Kambodscha. Auch wenn es für das Opfer letztlich kein Unterschied ist, ob es durch Rassenpolitik oder durch die im Voraus geplante Dramaturgie einer sogenannten politischen Säuberung dem Todesurteil ausgeliefert wird. Wobei sich das sowjetische Reich im Laufe der Zeit ein wenig zivilisiert hat. Die Schauprozesse etwa, die es bis 1955/56 gab, und zwar in allen osteuropäischen kommunistischen Staaten, die wurden im Lauf der Zeit doch abgestellt.
Sie haben sich in Ihrem bisherigen Werk ausgiebig mit den Nazis und deren System beschäftigt. Hat die Auseinandersetzung mit den kommunistischen Verbrechen Ihre Sichtweise auf dieses System verändert?
Das war hoch an der Zeit, dass ich mich damit beschäftigte. Ich habe mich von meinem politischen Bewusstsein her immer als Linker empfunden, hatte aber keine Sympathie für die kommunistische Staatenwelt. Ich hatte auf mehreren Reisen die DDR, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Polen und die Sowjetunion kennengelernt. Und ich war mit Dietlind Stahl befreundet, einer Schauspielerin des Berliner Ensembles, der Schwester von Armin Müller-Stahl. Als der im Westen blieb, bekam Dietlind keine Hauptrollen mehr, sondern durfte nur noch Putzfrauen spielen.
An einer Stelle fragt die Tänzerin, die der Blanka Modra nachgebildet ist, wie sie das System wahrgenommen hätte, wäre ihr Vater nicht eingesperrt worden, sondern ein erfolgreicher Sportler geblieben. Nach dem Motto von Talleyrand: „Hochverrat ist nur eine Frage des Datums.“
Vielleicht sollte man „auch“ dazu sagen, „ist auch eine Frage des Datums“. Blanka Modra kann man nur in eine lose Beziehung zur literarischen Figur der Tänzerin bringen. Die Frage lässt sich natürlich nur hypothetisch beantworten. Vermutlich hätte sich Bohumil Modrý mit den Einschränkungen seines Lebens nicht abfinden können und hätte 1968, wie so viele andere auch, das Land verlassen.
Haben Sie den Erzähler, den Anselm Findeisen, dazwischengeschaltet, um keine scheinbare Objektivität entstehen zu lassen?
Vergangenheit kann man mit Gegenwart doch nur aus einer Subjektivität heraus vermitteln. Dieses Bemühen, multiperspektivisch zu arbeiten, gab es ja auch in meinen anderen Romanen. Friedrich Schlegel hat es einmal den demokratischen Geist des Romans genannt, dass nicht alle Figuren um die Hauptfigur wie um einen König kreisen, sondern sich mit gleicher Berechtigung artikulieren können. Ich habe vergangenes Jahr einen Dokumentarfilm über die Charta-77-Szene in Wien gemacht. Da wurde mir klar, dass nicht einer die Wahrheit sagen kann über eine Zeit, über ein System, sondern dass es ein Ensemble von Erfahrungen sein muss, das aus den subjektiven Eindrücken ein ungefähres Bild entstehen lässt. Ich bin im Schatten des Eisernen Vorhangs aufgewachsen, 25 Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt. 1968, daran erinnere ich mich, hat sich mein Vater mit einem alten Mann über den Einmarsch der Truppen in Prag unterhalten. Sie haben darüber gesprochen, dass man von der Tschechoslowakei aus mit der Flak bis in unser Dorf schießen könne. Da habe ich Angst gekriegt. Sonst habe ich als Kind mit dieser Grenze kein Problem gehabt.
Sie denken, es wäre es an der Zeit, sich mit der Geschichte Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen?
Für mich war es zunächst wichtig, mich mit unserem Hauptproblem, also dem Nationalsozialismus, auseinanderzusetzen. Ich bin in diese Rolle auch hineingerutscht, damals bei der Waldheim-Auseinandersetzung.
Mit dem Band über die „Politik der Gefühle“.
Ja, und das hat dann auch Spuren in meinen folgenden Romanen hinterlassen. Ich habe den Eindruck, meinen Beitrag dazu geleistet zu haben.
Haben wir also die Nazi-Zeit aufgearbeitet und können uns eine neue Perspektive leisten?
Nein, so nicht. Ich habe nur für mich das Gefühl, in Bezug auf den Nationalsozialismus eine gewisse Klarheit erlangt zu haben. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der kommunistischen Staatenwelt habe ich mir bisher weitgehend erspart. Und die hole ich jetzt nach. Schreiben kommt immer auch der Erforschung eines Gebietes gleich. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2011)

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