Die die kommunistische Führung der Tschechoslowakei wappnete sich im Jahr 1961 wegen der Vorgänge in Berlin für einen Atomkrieg, berichtet der Historiker Jaroslav Láník vom Militärhistorischen Institut in Prag.
Als in Berlin vor 50 Jahren, beginnend mit der Nacht auf den 13. August 1961, die Mauer errichtet wurde, befürchtete die kommunistische Führung des DDR-Nachbarn Tschechoslowakei den Ausbruch eines Krieges. In hektischen Planungen wurde unter anderem die Evakuierung aller großen Städte erwogen, da man Angriffe mit atomaren und chemischen Waffen fürchtete, berichtet der Historiker Jaroslav Láník vom Militärhistorischen Institut in Prag.
Unter den zu räumenden Städten wären etwa Prag, Bratislava, Brno (Brünn), Ostrava (Mährisch-Ostrau), Plzeň (Pilsen), České Budějovice (Budweis), Olomouc (Olmütz) und Ústí nad Labem (Aussig an der Elbe) gewesen. Láník zufolge sollten 2,5 Millionen Tschechen und Slowaken in „sicherere Gebiete“ gebracht werden. In den elf Städten sollten lediglich 35.000 Zivilisten und Soldaten zurückbleiben, um lebenswichtige Einrichtungen am Laufen zu halten.
Die damalige Regierung unter dem erzkommunistischen Ministerpräsidenten Viliam Široký (1902-71, Premier 1953-63) hatte die nicht unberechtigte Angst, der Mauerbau könnte in einem Krieg zwischen Nato und Warschauer Pakt münden – und in einem solchen hatten, wie auch noch in den 1980er-Jahren, zumindest taktische Einsätze von Kernwaffen ihren Platz. Die ČSSR aber wäre auf einen Einsatz von Massenvernichtungswaffen unvorbereitet gewesen, das Gros der Bevölkerung hätte keinen Schutz, etwa in Bunkern, gehabt.
Evakuierung binnen acht Stunden
Die Pläne sahen vor, die Städte binnen sechs bis acht Stunden zu evakuieren. Die vorliegenden Informationen offenbaren jedoch erhebliche Mängel bei der Umsetzung der Pläne: So mussten die meisten Menschen ihre Wohnungen zu Fuß verlassen und sich zu teils weit entfernten Evakuierungszentren begeben. Von dort wollte man sie mit Bussen, Autos oder Zügen wegbringen. Kritisch wurde die technische Ausstattung der Schutzräume bewertet, zudem gab es nur 4,2 Millionen Schutzmasken für Erwachsene – viel zu wenige. Ihre Filter hätten maximal moderaten Schutz vor radioaktiv verstrahlten Stoffen geboten, nicht aber vor biologischen und modernen chemischen Kampfstoffen. Bis Ende 1961 standen, den Forschungen zufolge, nur für 84 Prozent der Bürger Schutzmittel zur Verfügung.
Ohne Evakuierungsmaßnahmen rechnete die Führung während der ersten Tage eines Krieges jedenfalls mit 1,2 Millionen Toten und Verletzten, was etwa zehn Prozent der Bevölkerung der Tschechoslowakei entsprach. Offen blieb, wo man die Verletzten hätte behandeln können: Es mangelte, den Berichten des Zivilschutzes nach, an Krankenhausbetten, Medikamenten und Spenderblut.
Zu wenig Blut für den Krieg
„Für die ersten Kriegsmonate sahen die Schätzungen einen Anstieg des Bedarfs an Blutkonserven aufs 30-Fache gegenüber Friedenszeiten vor“, sagt Láník. „Die Transfusionszentren hätten den Bedarf nur bis zu einem Drittel decken können. Und diese Zahl wäre noch geringer ausgefallen, hätte man tatsächlich die Städte evakuiert.“
Am Ende wollte niemand Krieg wegen Berlin. Wie sprach der damalige britische Premier Harold Macmillan (1894-1986): „Die Ostdeutschen halten den Flüchtlingsstrom auf und verschanzen sich hinter einem noch dichteren Eisernen Vorhang. Daran ist nichts Gesetzwidriges.“ US-Präsident John F. Kennedy (1917-63) meinte: „Keine sehr schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg.“
Auf einen Blick
Die KP-Regierung der Tschechoslowakei hatte 1961 aus Angst vor einem großen (Atom-)Krieg wegen des Berliner Mauerbaus Notfallpläne vorbereitet U. a. sollten alle große Städte evakuiert werden, das hätte über 2,5 Millionen Menschen betroffen. Historikern zufolge lagen den Plänen unzureichende Ressourcen zugrunde; ohne Evakuierungen hätte man aber mit mehr als 1,2 Millionen Toten binnen der ersten Kriegstage gerechnet.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2011)