"Die Türkei wird kein religiöser Staat"

Mustafa Akyol
Mustafa Akyol (c) REUTERS (Ho)
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Interview. Autor Mustafa Akyol glaubt, dass von der AKP positive Impulse für die arabische Welt ausgehen. Den türkischen Säkularismus hält er für zu autoritär.

Die Presse: Als Folge des Arabischen Frühlings blickt man in vielen Ländern auf die türkische AK-Partei als Modell für islamisch orientierte Parteien. Kann sie tatsächlich eine Art Vorbild sein?

Mustafa Akyol: In der Tat. Manchmal sprechen Leute über ein „türkisches Modell", aber ich denke, das ist falsch, weil ein Land nicht das Modell für ein anderes sein kann. Jedes Land hat seine eigene Geschichte und Sozialstruktur. Aber die AKP als Partei hat reformorientierte Elemente der islamischen Bewegungen im Nahen Osten inspiriert. Deshalb waren wir in der Türkei positiv überrascht, als der Führer der tunesischen Ennahda-Partei sagte, er nehme die AKP als Vorbild. Auch ein Führer der ägyptischen Muslimbruderschaft sagte: Wir wollen wie die AKP sein.

Wie stufen Sie diese Parteien ein?

Sie treten für eine gewisse Form von autoritärem politischen Islam ein, speziell im ägyptischen Fall. Aber ich denke, die AKP hat diesen Leuten einen Denkanstoß gegeben, dass man auch als gläubiger Muslim ein Teil des politischen Spiels sein kann. Wie gut sie Demokratie verstehen - das ist freilich eine andere Frage. Aber alleine die Tatsache, dass sie für Demokratie eintreten und nicht für einen autoritären Einparteienstaat, ist schon positiv. Diese Entwicklung hat die AKP beflügelt.


Kritiker werfen der AKP-Regierung vor, sie untergrabe den säkularen Charakter der Türkei. Stimmen Sie zu?

Nein. Wobei: das hängt davon ab, wie man Säkularismus definiert. Ja, gewisse Aspekte des säkularen Charakters der Türkei sind etwas erodiert und das dürfte auch in der nahen Zukunft so weitergehen. Aber der Säkularismus in der Türkei war ohnehin exzessiv.

War das denn überhaupt Säkularismus?

Ein autoritärer Säkularismus. Religiöse Praktiken waren nicht frei erlaubt, es wurde etwa das Kopftuch an öffentlichen Plätzen wie Universitäten verboten. Die AKP hat den Säkularismus nie herausgefordert, sie hat vielmehr gesagt, sie will ihn neu definieren, sodass er religionsfreundlicher wird. Wenn das Kopftuchverbot gelockert wird, werden vielleicht mehr konservative Menschen in öffentliche Funktionen kommen. Aber es bedeutet nicht, dass das Kopftuch verpflichtend ist, das wäre wiederum autoritär von der anderen Seite. Nein, ich glaube nicht, dass aus der Türkei ein religiöser Staat wird.

Also das Gerede über eine „geheime Agenda" Erdoğan ist Nonsense?

Ja, das ist es. Mittlerweile ist das „Geheime Agenda"-Argument auch in der Türkei in den Hintergrund getreten. Die Säkularisten haben in den vergangenen acht Jahren gesehen, dass Erdoğan nicht die Scharia implementieren wird. Die Leute beklagen sich zwar über Erdoğans autoritäre Tendenzen, aber da geht es nicht um den Islam. Sondern um ihn als arroganten Politiker. Und da gibt es wirklich Probleme: mit seiner Arroganz, seiner Selbstgerechtigkeit, seiner Wut. Er ist nicht gerade ein höflicher Menschen, der offen für Kritik wäre. Aber das sind Dinge, die man bei „säkularen" Politikern ebenso findet. Da geht es eben um Macht, das liegt in der Natur der Politik. Und es liegt auch in der Natur der türkischen Politik, starke Führer zu haben.

Problematisch ist es, wenn eine Partei die dritte Wahl in Folge gewinnt und so viel Macht anhäuft, wie es ihr das politische System eben erlaubt. Und das wäre bei jeder anderen Partei ebenso problematisch.

Man trifft allerdings in der Türkei immer öfter auf Menschen, die Angst haben ihren Lebensstil ändern zu müssen.

Es gibt eine gewisse Änderungen des Lebensstils, und zwar insofern, als konservative Menschen, die früher einfach daheim waren oder im Dorf sichtbarer sind.

Also man sieht jetzt nur das, was ohnehin existiert.

Ja. Man sieht jetzt eben mehr konservative Frauen auf der Straße, und da fragen sich manche Säkulare: Wo kommen diese Leute plötzlich her? Die Antwort ist: sie waren immer schon da. Es ist gut, wenn die konservativen, religiösen Leute mehr am öffentlichen Leben teilnehmen. Diese Frauen gehen jetzt auch in Cafés, sie fahren Auto, machen Universitätsdiplome. Sie werden modern - auf ihre eigene Art und Weise, und nicht so, wie es sich die Säkularisten vorstellten. Genau deshalb beobachten wir jetzt Phänomene wie einen islamischen Feminismus. Es gibt Frauen, die das Kopftuch tragen, und für weniger männliche Dominanz im Islam eintreten. Das ist modern. Die Tatsache, dass eine Frau das Kopftuch trägt, bedeutet noch nicht, dass sie unterdrückt wird.

Die Polarisierung zwischen dem islamisch-konservativen und dem säkularen Lager wird immer tiefer und wirkt nahezu unüberbrückbar. Was kann man dagegen tun?

Das fragen wir uns in der Türkei alle. Wir brauchen mehr versöhnliche Figuren als politische Führer. Erdoğan ist eher kämpferisch. Abdullah Gül wäre viel „netter" gewesen. Der Unterschied zwischen den beiden zeigt, dass das Problem Erdoğans Persönlichkeit ist, und nicht seine Weltsicht, denn diese teilt er ja mit Gül. Aber Gül ist eine tolerante, höfliche und versöhnliche öffentliche Figur, während Erdoğan sehr angriffig ist. Der Umstand, dass Erdoğan vermutlich - wenn es nach ihm geht - in naher Zukunft Präsident ist, eröffnet Raum für einen neuen Premier, der die durch Erdoğans Persönlichkeit ausgelösten Spannungen abbauen kann. Wobei: Wir Türken haben Polarisierungen gern. In den 70er-Jahren gab es etwa eine starke Kluft zwischen links und rechts. Aber das ist alles nicht gewalttätig.

Aber es ist mehr als nur ein Streit von Parteien, die um Stimmen kämpfen.

Es ist auch eine Art Klassenkampf. Die meisten Säkularen sehen sich als die urbane, kultivierte Klasse und die Religiösen als niedrigere Klasse. Und sie fürchten, ihre Privilegien an jene aus ihrer Sicht Ungebildeten zu verlieren. Wenn man vor 15 Jahren mit Turkish Airlines flog, war das eine Sache der Oberschicht. Arme nahmen den Bus, Reiche das Flugzeug. Heute fliegt jeder, auch weil es billiger wurde. Die Oberschicht fühlt sich irgendwie belagert, aber das ist normal. Das ist Modernisierung.

Ich glaube aber nicht, dass die Spannungen ewig andauern werden. Es gibt Veränderungen auf beiden Seiten. Die Befangenheit der Säkularisten schwindet langsam, und die Konservativen modernisieren sich. Sie beginnen, wie die Säkularen zu leben. Sie besuchen genauso Fünf-Sterne-Hotels und schöne Strände - auch wenn sie freilich keinen Alkohol trinken. Sie kreieren ihre eigene bürgerliche Kultur. Langfristig werden sich die beiden Lager einander immer mehr annähern.

Reformiert sich in der Türkei eigentlich auch der Islam selbst?

Ja, aber nicht in dem Sinne, dass eine Art Martin Luther kommt und Thesen an eine Moscheetür anschlägt, sondern dass sich die kulturellen Praktiken ändern. Etwa die genannte islamische Feminismus-Bewegung, oder eine islamische Business-Kultur.

Und die Religiönsebehörde Diyanet veröffentlicht eine neue Sammlung von Aussprüchen des Propheten Mohammed, die keine frauenfeindlichen Statements mehr enthält, also einige der problematischen Elemente der Überlieferung entfernt. Es gibt einen Wandel in der ganzen muslimischen Kultur, der letztlich auch dazu führen wird, dass einige der alten Texte hinterfragt werden, weil generell das Leben in einer rationaleren Weise gesehen wird. Einige der Islamisten alter Schule fürchten da, dass ihre Werte verloren gehen. Einerseits sagen also die Säkularisten, es wird ihnen alles zu religiös, aber die streng religiösen sind der Meinung, es gerät alles außer Kontrolle.

Also die zwei Lager werden einander immer ähnlicher, lernen voneinander?

Das kann man so sagen. Wir haben bei dieser Spaltung, die ihre Ursprünge im Kemalismus hat, den Zenit überschritten. 2006/2007, als Abdullah Gül Präsident wurde, gab es wegen der Kopftuchfrage große Unruhe unter den Säkularisten. Letztlich haben sie aber realisiert, dass es nichts bringt, Angst wegen des Kopftuchs und des Islam zu verbreiten. Die wichtigste säkulare Partei ist jetzt weniger paranoid sondern kümmert sich mehr um tatsächliche Probleme.

Zur Person

Mustafa Akyol (*1972) zählt zu den bekanntesten Kolumnisten der Türkei. Er schreibt u. a. für „Hürriyet Daily News“, aber auch für internationale Medien wie „Washington Post“. Vor kurzem erschien sein Buch „Islam Without Extremes“. Er war auf Einladung der „Erste Stiftung“ und der „European Stability Initiative“ (ESI) in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2011)

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