Tun, was befohlen wird: Das Experiment, das die Welt erschütterte

Vor 50 Jahren begann Stanley Milgram an der Yale University einen spektakulären Test: „Die Ergebnisse sind erschreckend. Hier sind genug moralisch Schwachsinnige für ein System von Konzentrationslagern...“

Der Schüler schrie vor Schmerzen, bat, ihn vom Stuhl loszubinden und das Experiment abzubrechen, aber der Fragesteller hörte nicht auf. Die kurze Ermahnung des Testleiters „Ob es dem Schüler gefällt oder nicht, Sie müssen weitermachen!“ genügte. Selbst als die Geprüften „Schreie ausstießen, die das Blut in den Adern gefrieren lassen“, so die Testanleitung, genügte den Fragestellern ein kurzes „Ich übernehme die Verantwortung!“ des Testleiters.

Sie drückten weiter auf den Schock-Generator. 65 Prozent der Personen, die in die Universität Yale eingeladen worden waren, verabreichten dem ungelehrigen Schüler Stromstöße, die tödlich gewesen wären. Akademiker drückten genauso oft auf den letzten Knopf wie Arbeiter, Sensible wie Dickhäutige, Frauen ebenso häufig wie Männer; das galt für Menschen aller Kulturkreise Die Autorität des Testleiters besiegte das Mitleid.

Es war ein Experiment, das die Welt erschütterte. Stanley Milgram, 27 Jahre jung, Assistenzprofessor und Sohn jüdischer Einwanderer in die USA, hatte nach einer Erklärung für die Naziverbrechen gesucht. Ist es typisch deutsch, jegliches Mitgefühl über Bord zu werfen, wenn eine Autorität es verlangt, wollte er wissen. Die Ergebnisse zerstörten seine Annahme.

Im September 1961 schrieb er: „Die Resultate legen nahe, dass die menschliche Natur oder, genauer gesagt, die Charakterbildung in der amerikanischen Gesellschaft, ihre Bürger nicht davon abhält, andere brutal und unmenschlich zu behandeln, wenn es eine bösartige Autorität verlangt. In naiven Augenblicken habe ich mich gefragt, ob eine teuflische Regierung in den USA genug moralisch Schwachsinnige finden könnte, um den Personalbedarf für ein nationales Netz an Konzentrationslagern, wie es sie in Deutschland gegeben hat, zu decken. Jetzt glaube ich langsam, dass man die volle Anzahl dafür schon allein in New Haven rekrutieren könnte.“

Milgram sah in seiner zweijährigen Testreihe, die zeitgleich zum Eichmann-Prozess und Hannah Arendts berühmter Reportage verlief, einen Beleg für die Banalität des Bösen: „Eine große Zahl an Menschen tut ohne Gewissensbisse das, was befohlen wird, egal, worum es sich handelt, solange sie das Gefühl hat, der Befehl komme von einer legitimen Autorität.“

Sein Experiment machte Milgram weltberühmt und wohlhabend, behinderte aber auch seine weitere Universitätskarriere. Ethische Einwände wurden laut, am klarsten bei Bruno Bettelheim, dem österreichisch-amerikanischen Psychoanalytiker. Er nannte die Versuchsanordnung „nutzlos und so abscheulich wie jene der Nazis“. Harvard verweigerte Milgram eine fixe Anstellung, er landete an der City University von New York.

Dem aufkommenden antiautoritären Studentenprotest, der sich auch auf ihn berief, stand er reserviert gegenüber. Milgrams weitere Experimente blieben interessant, erregten aber kein Aufsehen mehr. Einige seiner Forschungsvorhaben zum Verhalten in Extremsituationen blieben unausgeführt. Sein berühmtestes Experiment aber gilt heute als unethisch und wird nur mehr in Fernsehshows (und bei den „Simpsons“) nachgespielt.

Milgram starb mit 51 Jahren, nachdem er eine notwendige Herztransplantation abgelehnt hatte. Sein Tod fiel in das Jahr 1984, das „Orwell-Jahr“, dessen psychologische Voraussetzungen er radikaler erforscht hatte als jeder andere.


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Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001 Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang des Jahres ist er Vorsitzender des Österreichischen Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2011)

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