Vorsorge: Jeder zweite Türke spart für die Bestattung

Rund 800 Menschen werden pro Jahr in religionsneutralen Sozialgräbern bestattet, weil das Geld für das Begräbnis fehlt. Um dieses Schicksal zu verhindern, sorgt man in der türkischen Community mit einem Fonds vor.

Wien. Der Sarg ist aufgebahrt – und während schon ein Musikstück erklingt, warten die Friedhofsmitarbeiter noch, ob vielleicht doch noch Angehörige kommen. Meist erscheint allerdings niemand. Also bringen die Sargträger den Leichnam zu seiner Grabstelle. Sonst geht niemand mit. Kein Geistlicher, der ein letztes Gebet spricht.

So sieht in der Regel eine Sozialbestattung auf dem Wiener Zentralfriedhof aus, die Tag für Tag am frühen Morgen stattfindet. In Wien werden jährlich rund 800 derartige Bestattungen durchgeführt. Wenn ein Mensch stirbt und seine Angehörigen sich kein Begräbnis leisten können – oder der Verstorbene weder Angehörige noch Vermögen hat, springt die Stadt Wien ein. Sie finanziert ein einfaches Begräbnis. Ein Einzelgrab mit Gedenktafel – religionsneutral. Keine gesegnete Erde, keine Priester, Pastoren oder Imame, die an den Begräbnissen teilnehmen. Spezialwünsche, Kultur oder Religion betreffend, werden nicht mitfinanziert. Aber meist wissen die Bestatter ohnehin nicht, welche Konfession oder Herkunft der Verstorbene hatte. Mit ein Grund, weshalb es nur Erd- und keine Feuerbestattungen gibt – Letztere sind ja in manchen Religionen, etwa im Islam, nicht gestattet, sagt Florian Keusch, Sprecher der Bestattung Wien.

Sozialbestattung, nein danke

Wie stark Migranten diese Unterstützung in Anspruch nehmen, weiß man nicht. „Migranten sind dabei, aber nicht überdurchschnittlich. Wir führen aber keine Statistik“, heißt es aus der MA15, dem Gesundheitsamt. Die MA15 ist es, die eine Bestattung anordnet, wenn sich nicht innerhalb von fünf Tagen Angehörige melden. Kostenpunkt: mehrere tausend Euro. Nach zehn Jahren werden die Gräber aufgelassen, um Platz für neue sozial Schwache zu machen. Eine Vorstellung, die für viele türkische Migranten allerdings unerträglich ist. Sie sorgen vor.

Im Jahr 1993 gründete der türkische Kulturverein Atib einen eigenen Beerdigungshilfefonds. Er soll verhindern, dass türkische Migranten in die Situation kommen, ein Sozialgrab zu benötigen. Mittlerweile zahlen rund 100.000 der 185.000 Migranten türkischer Herkunft in den Fonds ein, um sich für ihren Tod abzusichern. Das Leistungsspektrum ist umfassend: Atib übernimmt die religiösen Aufgaben, etwa die rituelle Waschung, organisiert und finanziert eine Beerdigung in Österreich – oder eine Überführung in die Türkei.

Bei einer Überführung wird auch der Weitertransport vom Flughafen in der Türkei bis zum Heimatort des Verstorbenen finanziert. Inklusive ist auch ein Hin- und Rückflugticket für eine Begleitperson. Voraussetzung ist, dass es sich um Menschen türkischer Herkunft und muslimischen Glaubens handelt, die einen Wohnsitz in Österreich haben.

Die Mitgliedsbeiträge – 15 Euro jährlich und eine einmalige Anmeldungsgebühr von 75 Euro – sind mit den Kosten einer Beerdigung bzw. Überführung nicht vergleichbar. Im günstigsten Fall würden dafür „nur“ 3000 Euro anfallen. Aber für den Leiter des Beerdigungshilfefonds Yasar Ersoy zählt nicht nur die finanzielle, sondern auch die seelische Unterstützung: „Wir sind keine Versicherung, die einfach einen Schaden ausbezahlt.“ Sobald sich die Verbliebenen mit der Nachricht vom Tod eines Mitglieds an Atib wenden, bekommen sie auch moralische Unterstützung von den Religionsbeauftragten. 2011 gab es bis dato 181 Todesfälle. Der Großteil wurde in die Türkei überführt.

Weniger Flüge in die Türkei

Aber die Tendenz, sich in Österreich beerdigen zu lassen, meint Ersoy, nehme vor allem bei den Jungen zu. Während in der ersten Generation noch viele den Wunsch haben, bei ihrer Familie begraben zu werden, ist die zweite und dritte Generation viel stärker in Österreich verwurzelt.

Und auch vom pragmatischen Gesichtspunkt spricht zunehmend mehr für eine Bestattung hierzulande. Schließlich haben viele mittlerweile ihren Lebensmittelpunkt und ihre Familie in Österreich – und in der Türkei würde sich niemand um die Grabpflege kümmern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2011)

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